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Vergiss mein nicht

Vergiss mein nicht

Titel: Vergiss mein nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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einfach nicht daran gewöhnen. In drei Wochen würden ihr vier endgültige Stiftzähne eingesetzt, in ihre Kieferknochen geschraubt werden wie winzige Glühbirnen. Sie wollte sich nicht vorstellen, was das für ein Gefühl war. Im Moment war das alles eine ständige Erinnerung an das, was ihr vor vier Monaten passiert war.
    Sie versuchte diese Erinnerung zu verdrängen, während sie die vorüberziehende Landschaft betrachtete. Grant County war klein, wenn auch nicht so klein wie Reese, wo Lena und Sibyl, ihre Zwillingsschwester, aufgewachsen waren. Ihr Vater war » in Erfüllung seiner Pflicht« gefallen, acht Monate bevor sie geboren wurden, und ihre Mutter war bei der Geburt gestorben. Die Aufgabe, die beiden Mädchen großzuziehen, war ihrem Onkel Hank Norton zugefallen, einem speedsüchtigen Alkoholiker, der während der Kindheit seiner Nichten noch lange mit beiden Abhängigkeiten zu kämpfen hatte. Eines sonnigen Nachmittags hatte der betrunkene Hank seinen Wagen rückwärts aus der Einfahrt gesetzt und dabei die kleine Sibyl angefahren. Lena hatte es ihm nie verziehen, dass ihre Schwester daraufhin erblindet war. Sie konnte Hank diesen Unfall einfach nicht vergeben, und er reagierte auf ihren Hass seinerseits mit einem anscheinend unüberwindbaren Groll. Ihre gemeinsame Vergangenheit hinderte die beiden daran, aufeinander zuzugehen. Und auch nachdem Sibyl tot war und Lena selbst sich so gut wie tot fühlte, war Hank Norton für sie höchstens ein notwendiges Übel in ihrem Leben.
    » Heiß draußen«, murmelte Hank und tupfte dabei seinen Nacken mit einem zerschlissenen Taschentuch ab. Die Klimaanlage röhrte so laut, dass Lena ihn kaum verstehen konnte. Hanks alte Mercedes-Limousine war eher ein Panzer als ein Auto. Alles im Innern dieses Autos wirkte übertrieben. Die Sitze waren zu groß. Ein Pferd hätte genug Beinfreiheit gehabt. Die Instrumente des Armaturenbretts waren überdimensioniert und ihr Design eher darauf gerichtet, Eindruck zu schinden, als zu informieren. Doch es war auch angenehm, in einem so soliden Fahrzeug zu sitzen. Sogar auf dem Kiesweg zu Lenas Haus schien der Wagen über den Boden zu gleiten.
    » Echt heiß«, wiederholte Hank. Je älter er wurde, desto öfter machte er das, als könne die Wiederholung irgendwelcher Phrasen die Tatsache ausgleichen, dass er nicht viel zu sagen hatte.
    » Ja«, sagte Lena und starrte dann wieder zum Fenster hinaus. Sie spürte, dass Hank sie ansah und wahrscheinlich überlegte, worüber er mit ihr reden könnte. Aber schon bald gab er offenbar auf, denn er machte das Radio an.
    Lena ließ den Kopf nach hinten sinken und schloss die Augen. Eines Sonntags, kurz nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie sich bereit erklärt, mit ihrem Onkel in die Kirche zu gehen, und im Laufe der folgenden Monate waren die Kirchgänge zur Gewohnheit geworden. Lena schloss sich ihnen eher an, weil sie Angst davor hatte, allein zu Hause zu bleiben, als dass sie es etwa auf die Absolution angelegt hätte. Ihrer Überzeugung nach würde sie nie wieder für irgendwas um Vergebung bitten müssen. Sie hatte Gott– oder wer auch immer für den Gang der Dinge verantwortlich war– vor vier Monaten ihren Tribut bezahlt, als sie vergewaltigt und dabei unter Drogen gesetzt worden war, die bewirkt hatten, dass sie sich in einer albtraumhaften Welt aus Schmerz und trügerischer Transzendenz verloren hatte.
    Wieder unterbrach Hank: » Alles okay, Baby?«
    Was für eine bescheuerte Frage, dachte Lena. Was für eine absolut bescheuerte Frage.
    » Lee?«
    » Sicher«, antwortete sie und merkte, wie das Wort zwischen ihrem Provisorium hervorzischte.
    » Nan hat wieder angerufen.«
    » Ich weiß«, antwortete Lena. Nan Thomas, bis zu Sibyls Tod deren Geliebte, hatte im vergangenen Monat ab und zu angerufen.
    » Sie hat noch Sachen von Sibby«, sagte Hank, obwohl ihm klar sein musste, dass Lena das wusste. » Die will sie dir einfach nur geben.«
    » Warum gibt sie das Zeug nicht dir?«, konterte Lena. Dazu musste sie diese Frau doch nicht sehen, sie wollte das auch gar nicht, und das wusste Hank. Trotzdem kam er ihr immer wieder damit.
    Jetzt wechselte er das Thema. » Das Mädchen gestern Abend«, fing er an. Er stellte das Radio leiser. » Da warst du doch dabei, hmm?«
    » Sicher«, sagte sie, und wieder war da dieses Zischen. Lena biss die Zähne zusammen, zwang sich, nicht in Tränen auszubrechen. Würde sie jemals wieder ganz normal sprechen können? Oder würde

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