Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vergiss mein nicht

Vergiss mein nicht

Titel: Vergiss mein nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
Vom Netzwerk:
sogar der Klang ihrer Stimme eine ständige Erinnerung an das sein, was er ihr angetan hatte?
    Er, dachte Lena, die sich nicht erlaubte, seinen Namen zu benutzen. Ihre Hände ruhten im Schoß, und sie blickte hinunter auf die spiegelbildlichen Narben auf den beiden Handrücken. Hätte Hank nicht neben ihr gesessen, hätte sie bestimmt die Hände umgedreht und auch die Handflächen betrachtet. Durch sie hindurch waren die Nägel getrieben worden, um sie anschließend in den Fußboden zu hämmern. Dieselben Narben verunzierten auch ihre Füße, genau in der Mitte zwischen Zehen und Knöcheln. Nach zwei Monaten Krankengymnastik hatte sie ihre Hände wieder normal gebrauchen können, und inzwischen konnte sie auch wieder gehen, ohne vor Schmerzen zusammenzuzucken, aber die Narben würden immer bleiben.
    Lena erinnerte sich nur an einige wenige Bruchstücke dessen, was ihrem Körper angetan worden war, während sie sich in der Gewalt des Entführers befunden hatte. Nur die Narben und der Bericht in ihren Krankenakten erzählten die ganze Geschichte. Gut erinnerte sie sich nur an die Augenblicke, wenn die Wirkung der Droge nachgelassen hatte und er zu ihr gekommen war, sich zu ihr auf den Fußboden gesetzt hatte, als hielten sie im Ferienlager eine Bibelstunde ab, und dann Geschichten aus seiner Kindheit und aus seinem Leben erzählt hatte, als seien sie ein verliebtes Paar, das einander langsam näher kennen lernte.
    Noch immer war Lenas Kopf voller Einzelheiten aus seinem Leben: sein erster Kuss, seine erste Liebeserfahrung, seine Hoffnungen und Träume, seine kranken Zwangsvorstellungen. All das kam ihr so leicht und schnell in den Kopf wie die Erinnerungen an ihre eigene Vergangenheit. Hatte sie ihm etwa ähnliche Geschichten von sich erzählt? Sie konnte sich nicht entsinnen, und das hatte sie fast tiefer verletzt als die physischen Vergewaltigungen. Manchmal empfand Lena die Male an ihrem Körper als belanglos im Vergleich zu den intimen Gesprächen, die sie mit dem Mann hatte führen müssen. Er hatte sie nicht nur missbraucht, sondern so manipuliert, dass sie die Kontrolle über ihre Gedanken verlor. Er hatte nicht nur ihren Körper vergewaltigt, sondern auch ihre Seele.
    Sogar jetzt vermischten sich seine Erinnerungen noch mit den ihren; manchmal, bis sie nicht mehr wusste, ob etwas ihm oder ihr passiert war oder auch gar nicht. Sibyl, der einzige Mensch, der Klarheit hätte schaffen können, der einzige Mensch, der Lena ihr Leben hätte zurückgeben können, besonders ihre Kindheit, war ihr ebenfalls von ihm genommen worden.
    » Lee?« Hank unterbrach ihre Gedanken, indem er ihr ein Päckchen Kaugummi hinhielt. Sie schüttelte den Kopf und schaute ihm dabei zu, wie er das Lenkrad zu halten und gleichzeitig einen Streifen Juicy Fruit auszuwickeln versuchte. Die Ärmel seines Oberhemds waren aufgekrempelt, sodass sie die alten Einstichstellen auf seinen blassen Unterarmen erkennen konnte. Sie waren grässlich, diese Narben, und sie ließen Lena an Jenny Weaver denken. Letzte Nacht hatte Jeffrey immer wieder gefragt, wieso ein junges Mädchen sich nur absichtlich ins eigene Fleisch schnitt. Aber Lena verstand, dass Schmerz auch tröstlich sein konnte. Ungefähr sechs Wochen, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie sich die Finger in der Autotür geklemmt. Der brennende Schmerz war ihr durch den ganzen Arm gefahren, und für einen Sekundenbruchteil hatte sie gemerkt, dass sie ihn genoss, und gedacht: So ist es, wenn man wieder etwas spürt.
    Sie schloss die Augen, faltete die Hände. Wie immer fanden ihre Finger die Narben, und sie ertastete den Umriss der einen und danach den der anderen. Als es geschah, hatte sie keine Schmerzen verspürt. Die Droge hatte ihr vorgegaukelt, auf dem Ozean zu treiben, weit weg und in Sicherheit. Im Kopf hatte sie sich eine alternative Realität zu der geschaffen, die der Vergewaltiger ihr aufzwang. Als er sie anfasste, hatte Lenas Verstand ihr gesagt, es sei Greg Mitchell, ihr ehemaliger Freund, der in sie eindrang. Lenas Körper hatte auf Greg reagiert und nicht auf ihn.
    Und doch hatte Lena danach in den seltenen Nächten, in denen sie lange genug geschlafen hatte, um überhaupt träumen zu können, geträumt, von ihrem Vergewaltiger berührt zu werden und nicht von Greg. Seine Hände lagen auf ihren Brüsten. Er war in ihr. Und wenn sie verstört und voller Angst aus dem Schlaf hochgeschreckt war, war es nicht Greg gewesen, nach dem sie im leeren, düsteren

Weitere Kostenlose Bücher