Vergiss mein nicht
gehen, sobald er seine Arbeit an Jenny beendet hatte, hatte er nichts dergleichen gesagt.
Sara faltete das Tuch bis kurz oberhalb der Brust zurück. Die Wunde war ganz und gar nicht sauber, der größte Teil der rechten Halsseite war zerschossen und hing in Fetzen herunter. Im geronnenen schwarzen Blut um die Wunde waren deutlich Knorpel und Knochen zu erkennen.
Sara ging zum Lichtkasten an der Wand und schaltete ihn ein. Das Licht flackerte und erleuchtete dann die Röntgenaufnahmen, die Carlos von Jenny Weaver gemacht hatte.
Konzentriert studierte Sara die Bilder und verstand anfangs nicht, was sie sah. Sie überprüfte noch einmal den Namen auf dem Obduktionsformular, bevor sie ihre Befunde laut aussprach. » Man sieht hier die verblassten Anzeichen eines Bruchs des linken Oberarms, der meiner Ansicht nach kein Jahr alt ist. Es handelt sich um keine typische Fraktur, besonders für jemanden, der unsportlich war, und ich nehme an, dass sie von einer Misshandlung herrührt.«
» Hast du sie wegen dieser Sache behandelt?«, fragte Jeffrey.
» Natürlich nicht«, antwortete Sara. » Das hätte ich doch gemeldet. Jeder Arzt hätte das gemeldet.«
» Schon gut«, sagte Jeffrey mit abwehrend erhobenen Händen. Ihr Ton musste schärfer geraten sein, als Sara bewusst war, denn Lena schien ein intensives Interesse am Fußboden entwickelt zu haben.
Sara wandte sich wieder den Röntgenbildern zu. » Da gibt es zudem Spuren eines Traumas am Knorpelansatz der unteren Rippen.« Sie deutete auf die Aufnahme des Brustbereichs. » Hier oben, in der Nähe des Brustbeins, befindet sich eine Quetschung, die auf einen harten Stoß oder Schubs nach posterior hinweist, also nach hinten.« Sie wartete die Wirkung ihrer Worte ab und fragte sich, ob Jenny wegen dieser Verletzungen bei einem anderen Arzt gewesen war. Jeder Assistenzarzt im ersten Jahr hätte erkennen müssen, dass hier etwas nicht stimmte.
Sara sagte: » Die Person, die das getan hat, muss größer gewesen sein als Jenny. Und diese Verletzungen sind erst kürzlich entstanden.«
Sara schob die nächste Aufnahme auf den Lichtkasten. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und schaute prüfend auf das Bild. » Das hier ist der Beckengürtel«, erläuterte sie. » Man beachte diese kaum wahrnehmbare Linie hier auf dem Ischium. Das dürfte auf traumatischen Druck gegen das Schambein hinweisen. Gemeinhin bezeichnet man dies als eine Stressfraktur.«
» Stress wodurch?«, fragte Jeffrey.
Zu Saras Verblüffung lieferte Lena die Antwort.
» Sie wurde vergewaltigt«, sagte Lena so, als würde sie erwähnen, dass die Augen des Mädchens blau seien. » Brutal vergewaltigt. Stimmt’s?«
Sara nickte und wollte noch etwas sagen, als sie wieder Schritte auf der Treppe hörte. Dem Schlurfen nach musste Brad zurückgekehrt sein.
» Hier sind sie«, sagte Brad und schob sich rückwärts zur Tür herein. Unterm Arm trug er die Laken, die Mütze baumelte an seiner Hand.
Sara stellte sich ihm in den Weg und fragte: » Haben Sie auch die Kissenbezüge mitgebracht?«
» Oh«, sagte Brad verdutzt. Er schüttelte den Kopf. » Tut mir leid, nein.«
» Ich glaube, die gibt es in der obersten Etage«, sagte Sara. » Könnten Sie mir mindestens vier holen?«
» Ja, Ma’am«, erwiderte er. Die Laken legte er auf den Tisch an der Tür.
Als er gegangen war, verschränkte Lena die Arme. » Er ist kein Kind mehr«, sagte sie.
Zum ersten Mal, seit sie das Leichenschauhaus betreten hatte, richtete Jeffrey das Wort an Lena, und zwar mit einem völlig untypischen » Ruhe!«.
Lena lief rot an, sagte aber nichts. Ebenfalls untypisch.
» So eine Quetschung am Brustkorb kann man eigentlich nur mit Schmerzmitteln behandeln«, fuhr Sara fort. » Auch ein Beckenbruch heilt von allein. Das würde auch erklären, warum sie in letzter Zeit so zugenommen hat. Es muss ihr schwergefallen sein, sich zu bewegen.«
Jeffrey fragte: » Glaubst du, ihr Freund hat sie missbraucht?«
» Wer auch immer«, sagte Sara und sah sich die Röntgenaufnahmen noch einmal genau an, um sicherzugehen, dass ihr nichts entgangen war. Sooft sie Jenny Weaver auch gesehen hatte, der Verdacht des Kindesmissbrauchs war Sara nie gekommen. Wie das Kind das geheim gehalten hatte und warum, wusste Sara nicht. Natürlich brauchte man bei Halsschmerzen keine Röntgenbilder, und Jenny hatte sich bei keiner der Untersuchungen ausziehen müssen. Teenager sind höchst schamhaft, und wenn es darum ging, Herz und Lunge abzuhören,
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