Vergiss mein nicht
Schlafzimmer Ausschau gehalten hatte.
Lena ballte die Fäuste, als ihr auf einmal der widerwärtig süße Geruch von Hanks Kaugummi in die Nase stieg. Ohne Vorwarnung wurde ihr furchtbar übel.
» Fahr rechts ran«, kriegte sie gerade noch heraus. Mit einer Hand hielt sie sich den Mund zu, mit der anderen suchte sie nach dem Türgriff. Abrupt riss Hank das Steuer herum und kam am Straßenrand zum Stehen, als Lena auch schon nicht mehr an sich halten konnte. Sie hatte als Frühstück nur eine Tasse Kaffee zu sich genommen, und die kam zuerst heraus. Dann erbrach sie nur noch Galle und danach nichts mehr. Aber ihr Magen krampfte weiter. Vor lauter Anstrengung schossen ihr Tränen in die Augen, und sie zitterte am ganzen Körper, während sie mit aller Kraft versuchte, sich aufrecht zu halten.
Nach mehreren Minuten ließ der Brechreiz nach. Lena wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, als Hank ihr auf die Schulter tippte und sein Taschentuch anbot. Es war warm und roch nach Schweiß, aber sie benutzte es trotzdem.
» Dein Kaugummi«, flüsterte sie und klammerte sich ans Armaturenbrett, um hochzukommen. » Ich weiß auch nicht, warum, aber…«
» Schon okay«, antwortete er brüsk. Auf Knopfdruck wurde das Seitenfenster in die Tür gesaugt, und Hank spuckte seinen Kaugummi aus, bevor er wieder auf die Straße fuhr. Mit versteinertem Gesicht sah er stur geradeaus.
» Tut mir leid«, sagte sie, obwohl sie nicht wusste, wofür sie sich eigentlich entschuldigte. Hank wirkte zwar ärgerlich, aber sie wusste, dass seine Unmut nicht ihr galt, sondern ihm selbst, weil er nicht wusste, wie er helfen konnte. Eine vertraute Szene, die sich fast tagtäglich abspielte, seit Lena aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
Lena griff nach hinten, um ihre Handtasche vom Rücksitz zu angeln. Speziell für Situationen wie diese hatte sie immer Pepto-Bismol-Tabletten und Altoids bei sich. Im Dienst war es besser. Da war sie einfach zu beschäftigt, um sich den Luxus solcher Episoden zu erlauben. Da galt es, Formulare auszufüllen, Berichte zu schreiben und Anrufe zu erledigen. Auf dem Revier wusste sie, wer sie war, und auf den Streifenfahrten mit Brad, vor denen sie anfänglich zurückgeschreckt war, kam sie sich kompetent vor und hatte das Gefühl, in Sicherheit zu sein.
Sie stürzte sich nicht blind in ihre Arbeit, weil sie glaubte, ihr Leben hätte nur als Cop einen Sinn. Lena sah das anders. Es ginge ihr ebenso, wenn sie in einem Laden an der Kasse säße oder in der Highschool als Hausmeisterin arbeitete. Verbrechen und Verbrecher hatten keine andere Bedeutung für sie als etwa die korrekte Herausgabe von Wechselgeld oder die Entfernung eines Flecks auf dem Fußboden der Cafeteria. Was der Job ihr in diesen Tagen brachte, war ein Gerüst: Sie hatte um acht Uhr zu erscheinen. Die Erledigung bestimmter Aufgaben wurde von ihr erwartet. Brad brauchte Unterstützung. Sie machten eine Lunchpause; Brad aß etwas, sie allerdings nicht. In letzter Zeit litt sie unter Appetitlosigkeit. Gegen drei Uhr nachmittags tranken sie Kaffee im Donut King in Madison. Um sechs kamen sie dann zum Schichtwechsel aufs Revier, und Lena verlor den Boden unter den Füßen, bis sie am nächsten Morgen wieder zur Arbeit fuhr. An den seltenen Abenden– wie eben jenem gestern–, an denen Jeffrey ihr erlaubte, Überstunden zu machen, hätte sie am liebsten vor Erleichterung geweint.
Hank fragte: » Alles wieder in Ordnung?« Der vorwurfsvolle Unterton war noch immer da.
Sie antwortete nicht weniger gereizt. » Lass mich in Ruhe.«
» Ja, okay«, erwiderte er und hieb auf den Blinker ein, als sie hinter einer Autoschlange vor der Kapelle halten mussten. Sie schwiegen, während sie im Schritttempo auf den Parkplatz fuhren.
Lena starrte das kleine weiße Gebäude an. Seine bloße Existenz war ihr schon zuwider. Sie war niemals gern zur Kirche gegangen und bereits mit zwölf Jahren aus der Sonntagsschule geflogen, weil sie aus einer Bibel Seiten herausgerissen hatte. Als Hank sie sich deswegen vorgeknöpft hatte, bekam er zu hören, dass sie es einfach aus Langeweile getan hatte. Aber in Wahrheit hatte Lena schon damals Schwierigkeiten mit Regeln gehabt. Sie hasste es, herumkommandiert zu werden. Sie konnte keine Autorität anerkennen, die sie nicht vorher überzeugt hatte. Der einzige Grund, warum sie zum Cop taugte, bestand darin, dass sie im Außendienst über eine gewisse Autonomie verfügte und dort alle auf ihr Kommando zu hören hatten.
»
Weitere Kostenlose Bücher