Vergiss mein nicht
hatte Sara das Stethoskop stets unter Jennys Hemd oder Pullover geschoben, damit ihr die Untersuchung nicht peinlich war.
Sara ging zurück an den Tisch, um die Voruntersuchung wieder aufzunehmen. Ihre Hände zitterten leicht, als sie das Tuch zurückschlug, und sie konzentrierte sich so sehr darauf, ihre Hände unter Kontrolle zu bekommen, dass ihr erst nicht auffiel, was sie da freigelegt hatte.
» Ach, du Scheiße«, sagte Lena und pfiff leise durch die Zähne.
Jeffrey wies sie diesmal nicht zurecht, und Sara verstand auch, warum. Der Leichnam des Mädchens war mit kleinen Schnitten übersät, hauptsächlich an Armen und Beinen. Die Wunden befanden sich in den verschiedensten Heilungsphasen, und manche sahen so aus, als seien sie höchstens ein paar Tage alt.
» Was ist denn das?«, fragte Jeffrey. » Wollte sie sich umbringen?«
Sara sah sich die Schnitte in der Haut genauer an. Keiner von ihnen verlief über die Pulsadern oder befand sich an Stellen, die normalerweise auffallen würden. Damit wäre zumindest geklärt, warum das Mädchen mitten im Hochsommer ein langärmliges Hemd trug. Ungefähr zehn Zentimeter über dem linken Handgelenk begannen schmale Reihen tiefer Schnitte, die den ganzen Unterarm überzogen. Dunklere Narben deuteten darauf hin, dass Jenny sich immer wieder so verletzt haben musste. Die Schnitte an den Beinen waren noch tiefer und verliefen kreuz und quer. An den Narben sah Sara, dass die tiefsten Schnitte vom Knie aus bis weit den Oberschenkel hinaufreichten. Auch die hatte das Mädchen sich selbst zugefügt.
» Was ist das denn?«, fragte Jeffrey, obwohl er es hätte wissen müssen.
» Ritzen«, sagte Lena.
» Autoaggressives Syndrom«, korrigierte Sara, als ob es dadurch besser würde. » Das sehe ich immer wieder in der Klinik.«
» Wieso?«, fragte Jeffrey. » Warum macht jemand so was?«
» Meistens aus Dummheit«, sagte Sara. Sie wurde plötzlich wütend. Wie oft hatte sie dieses Mädchen in der Sprechstunde gehabt? Wie viele Anzeichen waren ihr entgangen? » Manchmal wollen sie schlicht wissen, wie es sich anfühlt. Gewöhnlich wollen sie einfach nur angeben und denken nicht an die Konsequenzen. Dies hier…« Sie hielt inne und musterte die tiefen Schnitte an Jennys linkem Oberschenkel. » Dies hier ist etwas anderes. Sie hat die Schnitte versteckt, sie wollte nicht, dass jemand etwas davon mitbekam.«
» Wieso?«, wiederholte Jeffrey. » Warum tat sie das?«
» Kontrolle«, antwortete Lena ihm, und Sara gefiel der Blick nicht, mit dem sie das Kind bedachte. Darin lag nämlich ein gewisser Respekt.
» Es handelt sich um eine starke Psychose«, entgegnete Sara. » Menschen, die unter Bulimie oder Anorexie leiden, tun so etwas häufig. Es hat sehr viel mit Selbsthass zu tun.« Sie sah Lena streng an. » Gewöhnlich gibt es dafür einen Auslöser. Zum Beispiel Missbrauch oder Vergewaltigung.«
Lena hielt ihrem Blick nur kurz stand, bevor sie sich abwandte. Sara fuhr fort. » Es gibt jedoch auch andere mögliche Ursachen: Drogenmissbrauch, Geisteskrankheit, Probleme in der Schule oder im Elternhaus.«
Sara ging an den Materialschrank und nahm ein Spekulum heraus. Nachdem sie sich ein zweites Paar Handschuhe übergestreift hatte, befreite sie das Spekulum aus seiner Plastikverpackung und öffnete es mit einem Klicken. Bei dem Ton zuckte Lena leicht zusammen, und Sara registrierte dankbar, dass die Polizistin doch zu irgendeiner Gefühlsregung imstande war.
Sara ging langsam an das Fußende der Leiche und schob die Füße auseinander. Abrupt hielt sie inne, als könne sie nicht fassen, was sie sah. Das Spekulum fiel klirrend auf den Tisch.
Lena fragte: » Was ist denn?«
Sara antwortete nicht. Sie hatte gedacht, dass sie nach dem heutigen Abend nichts mehr schockieren könne. Wie sehr sie sich geirrt hatte!
» Was ist denn?«, wiederholte Lena.
» Das war nicht ihr Kind«, antwortete Sara. » Sie hat überhaupt kein Kind geboren.«
Jeffrey deutete auf das unbenutzte Spekulum. » Wie kannst du dir so sicher sein, ohne sie eingehend untersucht zu haben?«
Sara starrte die beiden an, weil sie nicht wusste, wie sie es ausdrücken sollte. » Ihre Vagina ist zugenäht«, sagte sie schließlich. » Und nach dem Heilungsprozess zu urteilen würde ich sagen, schon seit mindestens einem halben Jahr.«
Sonntag
Vier
L ena sah zum Autofenster hinaus und fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. Das Provisorium fühlte sich immer noch künstlich an, sie konnte sich
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