Vergissmichnicht
Notlüge, zog sein Mobiltelefon aus seiner Jackettasche und hob ab.
»Ja bitte?«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte nur zwei Worte. Doch die genügten, um Grubers kochendes Blut auf der Stelle zum Gefrieren zu bringen.
»Carlo Bader.«
Drittes Kapitel
Überlingen
»Also, bei aller Liebe zu deinem Beruf, Alexandra. Aber ich finde es extrem nervig, dass dein Handy ständig irgendwelche Geräusche von sich gibt.« Ralf brachte sein Missfallen deutlich zum Ausdruck, eifersüchtig auf das schneeweiße iPhone seiner Freundin, dem sie seiner Ansicht nach wesentlich mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihm.
Alexandra hatte nach dem Sonntagsdienst endlich Feierabend. Die Zeitung für den nächsten Tag war fertig und die Serie über die ›Geheimnisse der Heimat‹ ging auch gut voran. Wenn es sie eigentlich auch drängte, den Abend schreibend zu verbringen, so war ihr doch klar, dass sie sich endlich wieder einmal ihrem Freund widmen musste. Sie hatte ihn in der letzten Zeit sträflich vernachlässigt. Ralf war sauer, das war deutlich.
Sie strich sich eine rote Haarlocke aus dem milchweißen Gesicht und stellte das Essen auf den Tisch. Sie hatte sich extra die Mühe gemacht und gekocht, um ihn zu versöhnen. Ralf liebte es, wenn sie den Kochlöffel schwang.
Es gab grünen Salat mit rohen Pilzen, Walnüssen und Knoblauch-Joghurt-Soße. Ein gut durchgebratenes Steak, dazu gedünstetes Gemüse und selbst gemachte Pommes. Und zum Nachtisch Mousse au Chocolat in zwei Sorten: weiße und schwarze Schokolade. Sie hatte Kerzen angezündet, Wein auf den Tisch gestellt und sogar das Silberbesteck ihrer Großmutter poliert. Es war eine Heidenarbeit gewesen, die sie nicht wirklich gern gemacht hatte, wie sie sich mit dem Anflug eines schlechten Gewissens eingestand. Aber sie wusste, dass sie etwas gutzumachen hatte. Und eigentlich hatte sie sich auch vorgenommen, ihr Handy während des Essens zu ignorieren. Doch ein Blick auf das Display konnte nicht schaden. »Nur kurz, in einer halben Stunde springen die Druckmaschinen an. Nicht, dass irgendwelche Texte verschüttgegangen sind«, bat sie ihren Freund um Verständnis.
Ralf rollte die Augen. »Du lernst es auch nie!«, pampte er.
Aber Alexandra nahm seinen Protest gar nicht wahr. Sie war wie elektrisiert: Elisabeth Meierle hatte angerufen.
»Scheiße, da muss ich zurückrufen.«
Ralf knallte sein Besteck auf den Tisch: »Weißt du was? Du kannst mich mal! Ständig ist was anderes wichtiger als ich. Und dein Essen, das kannst du dir sonst wohin schieben. Gerne hast du es ja ohnehin nicht gekocht. Da geh ich lieber zu McDonald’s.« Das Geräusch, mit dem er seinen Stuhl auf dem rauen Fliesenboden zurückschob, war hässlich, laut und grob. Ralf stand auf, schnappte sich seine Lederjacke, die über der Stuhllehne hing, und verließ türenknallend die Wohnung.
Alexandra reagierte nicht auf seinen wütenden Aufbruch. Sie war in Gedanken längst nicht mehr bei ihm und wollte gerade den Rückruf aktivieren, als das Telefon erneut klingelte. ›Elisabeth Meierle‹, leuchtete es auf dem Display.
»Tuleit?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Tuleit. Hallo?«, rief Alexandra.
Elisabeth Meierle legte auf.
»Scheiße!«
Alexandra starrte auf ihr iPhone. Ob sie zurückrufen sollte? Wenn, dann nur mit unterdrückter Nummer, das war klar. Doch wie, in aller Welt, ließ sich bei einem iPhone die Nummer unterdrücken? Während sie nervös auf dem Display herumtippte, spürte sie, wie es wieder von ihr Besitz ergriff, sich in ihr ausbreitete, sie elektrisierte bis in die Fingerspitzen: das Gefühl, nein, das Wissen , dass sie etwas sehr Bedeutsamem auf der Spur war. Es war das gleiche Gefühl, das sie hatte, wenn sie nach Wochen des Ringens einen zurückhaltenden Interviewpartner zu einem Gespräch bewegen konnte. Wenn sie eine gute Geschichte witterte. Wenn sie kurz davor war, etwas aufzudecken, zu enthüllen.
Das iPhone blinkte erneut auf.
Elisabeth Meierle meldete sich zum dritten Mal.
Alexandra hob nach dem ersten Klingeln ab. »Ja, Frau Meierle?« Sie hielt es für klug, der alten Dame klarzumachen, dass sie wusste, wer am anderen Ende der Leitung war.
»Frau Tuleit?«, die Stimme der alten Frau klang erstickt, gepresst, panisch.
»Ja?«
»Frau Tuleit, ich habe Ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Ich weiß, wer Carlo Bader war.«
»Das war mir klar«, sagte Alexandra. »Dass Sie mir nicht die Wahrheit gesagt haben, meine ich. Das habe ich gemerkt.« Ihre Stimme
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