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Vergossene Milch

Vergossene Milch

Titel: Vergossene Milch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chico Buarque
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würden, fernab von Kranken niederer Herkunft. Er sagte, sie habe bis zum letzten Tag die Therapie abgelehnt, aber diese Geschichte haben Sie bestimmt schon längst gehört. Mit dem Alter neigen die Leute dazu, alte Erinnerungen zu erzählen, und die, die wir am wenigsten wiederaufleben lassen wollen, bleiben uns am deutlichsten im Gedächtnis. Jetzt brauche ich mein Schmerzmittel, die Schmerzen in der Brust sind wieder schlimmer geworden, ich glaube, diese Nacht überlebe ich nicht. Wenn ein Priester in der Nähe ist, schicken Sie ihn zu mir, damit er mir die Beichte abnimmt, ich lebe in Sünde, seit ich meine Frau kennengelernt habe. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon erzählt habe, wie ich sogar in der Kirche in Gedanken gesündigt habe, damals, als ich noch zur Messe ging, aber ich bin getauft und habe ein Recht auf die letzte Ölung. Ich bin sogar geneigt, an das ewige Leben zu glauben, und bin davon überzeugt, dass Matilde mich erwartet, auch wenn man mir im Katechismusunterricht das mit der Wiederauferstehung des Fleisches nie so richtig erklärt hat. Denn ich war einmal ein attraktiver junger Mann, und ich finde es nicht gerecht, in so hinfälligem Zustand neben einer jugendlichen Matilde in die Ewigkeit einzugehen. Nur weiß ich nicht, wie sie aussah, als sie gegangen ist, denn sie wollte nicht gesehen werden, ließ keinen Besuch zu. Dem Arzt zufolge hatte Matilde ihn bei der Bibel schwören lassen, dass er mir nicht verrät, wo sie sich befindet, aber das muss in meinen Memoiren nicht erwähnt werden, das sind ungesicherte Angaben, ich war nicht dabei. Als ich die Nachricht erhielt, war ich wie betäubt, Tage und Tage war ich am Boden zerstört, ich habe viel geweint, bekam Fieber, nächtliche Schweißausbrüche, Hustenanfälle, in Panik war ich davon überzeugt, ich hätte auch die Lunge voller Bazillen. Aber später kamen mir dann Zweifel an dem, was der Arzt gesagt hatte, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Matilde gehustet hatte, und die Waschfrau hätte mich darauf aufmerksam gemacht, wenn Matilde Blut gespuckt hätte. Ich misstraute diesem Doktor, nicht weil er Jude war, sondern weil er kleinmütig war, seine Frau hätte ihn unschwer dazu aufgestachelt haben können, mir wer weiß welche Lügengeschichte zu erzählen. Eva war für Matilde eine schlechte Gesellschaft gewesen, von Anfang an hatte sie ihr Flausen in den Kopf gesetzt. Bestimmt hatte sie ihr von ihrer Jugend im Paris der Belle Époque erzählt, mit einem willfährigen Ehemann und ohne lästige Kinder. Nun, mit ihren vierzig gut gelebten Jahren, sah sie sich, da sie keine Tochter hatte, vielleicht in meiner Frau verkörpert, mir war nicht entgangen, wie sie am Strand Matilde betrachtete, ihren herrlichen Körper, wenn sie aus dem Wasser kam. Eva hätte mit Freuden eine Affäre von Matilde gedeckt, und diese Vermutung ließ mich aus dem Bett springen. Anstatt mir vorzustellen, Matilde säße in einem Sanatorium eingesperrt, war es mir tausendmal lieber, durch die Stadt zu streifen und hinter jedem Fenster der Wolkenkratzer ihre Silhouette zu erahnen. Irgendwann würde ich auf sie stoßen, selbst wenn bis dahin Jahre vergingen, selbst wenn sie gerade einen anderen küsste. Und hätte ich Matilde eines Tages zusammen mit einem anderen gefunden, dann hätte ich weniger Matilde als den anderen angesehen, weil ich wissen musste, wie dieser Mann war, damit sich meine Eifersucht auf etwas Konkretes richten konnte. Ständig dachte ich an diesen Mann, in so mancher Nacht habe ich von ihm geträumt, doch beim Aufwachen konnte ich ihm keine menschliche Gestalt geben. Auch konnte ich keinen Hass auf einen empfinden, der mich nicht beleidigt, nicht mein Haus betreten, nicht meine Zigarren geraucht, nicht meine Frau vergewaltigt hatte. Nach und nach wurde ich bereit, ihn zu akzeptieren, ich bemühte mich, ihn mir als sensible Seele vorzustellen, als jemanden, der sich in meiner Abwesenheit um Matilde kümmerte. Ich stellte ihn mir als einen Mann vor, der sie ausschließlich mit Wörtern ansprach, die ich nie benutzt hatte, der darauf achtete, ihre Haut dort zu berühren, wo ich sie nie berührt hatte. Als einen Mann, der mit ihr schlief, ohne meinen Platz einzunehmen, der sich damit zufriedengab, das zu sein, was ich nicht war. So dass Matilde immer an mich denken würde, wenn sie sich an ihm vorbei umsähe, und im Traum sähe sie uns beide gleichzeitig, würde aber nicht verstehen, wer der Schatten von wem ist. Und beim Aufwachen würde sie

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