Vergossene Milch
Heute hat Papa mich besucht, er, der sonst nie in mein Zimmer kommt. Er hat hereingeschaut, um mir zu sagen, dass ich brav im Bett bleiben soll, weil sonst der Mumps auf die Eier geht, der Sack riesengroß wird und der Pimmel das Gegenteil. Deshalb drehe ich auch nicht den Kopf, um dich anzusehen, aber aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass du in Morgenmantel und Pantoffeln mit der Faust in die Luft schlägst. Dabei ist es das Thermometer, das du herunterschlägst, bevor du es mir in die Achselhöhle steckst, dann wirst du dich auf mein Bett setzen und mir den Handrücken auf den Hals und die Stirn legen. Wenn es nach mir ginge, würde ich häufiger krank und bekäme noch einmal Mumps, auch Windpocken und Masern und Blinddarmentzündung. Und in meinem Zimmer herrschte ständig dieses gedämpfte Lampenlicht, und die Fenster wären auch tagsüber geschlossen. Und während du mir ein Wiegenlied vorsingst, könnte ich in deinen Augen eine Träne zittern sehen, das gleiche Tränenpaar, wie wenn du Klavier spielst, mehr sage ich jetzt nicht, um dich nicht mit meiner Gefühlsduselei zu belästigen. Wenn es nicht um Musik geht, bist du immer so vornehm, deine Gefühle zu unterdrücken, obwohl sie bestimmt weh tun, so wie fest gewordene Milch weh tun muss. Du hast auch schon gesagt, dass du keine Leute magst, die andere Menschen, die sie kaum kennen, auf die Wange küssen, ihnen auf den Rücken klopfen, dich anfassen, wenn sie mit dir sprechen. Und auf Papas Fest habe ich gemerkt, dass du nur aus Höflichkeit die Frau angelächelt hast, die tat, als wäre sie deine Freundin, dir etwas ins Ohr sagte und übertrieben gestikulierte und lachte. Wahrscheinlich erinnerst du dich gar nicht an sie, sie hatte Sommersprossen und braunes Haar und sprach dich an, als die Kellner die Petits Fours servierten. Dann verabschiedete sie sich von dir mit zwei Wangenküssen und wandte sich einem schönen Kerl zu, der Rodolfo Valentino ähnlich sah und in einem Sessel Whisky trank. Doch als der Typ aufstand, war ich überrascht, wie klein er war, er erinnerte an die Karikaturen in der Zeitschrift
Fon-Fon
, ein im Verhältnis zu den kurzen Beinen zu kräftiger Rumpf. Die beiden gingen Arm in Arm weg, und da dämmerte mir, dass sie das Paar aus dem Musikzimmer waren, ich hatte sie kurz vorher zusammen mit meinem Vater gesehen. Nur hat jetzt plötzlich jemand die Jalousie geöffnet, und mit der Sonne im Gesicht sehe ich nichts mehr, meine Mutter, die eben noch hier war, ist verschwunden. Wenn ihr jemand begegnet, sage er ihr bitte, sie soll zurückkommen und mit mir sprechen, es ist wichtig. Ich wiederhole: Wenn mich einer hört, möge er für mich schnellstens ins Schlafzimmer zu meiner Mutter gehen, denn ich habe Mumps und darf mich nicht bewegen. Und falls sie im Rollstuhl sitzt, wie eine Verrückte aussieht und auf Französisch spricht, soll er sich nicht darum kümmern, nur ohne Angst die mittlere Schublade des Palisandersekretärs aufziehen. Dann gründlich suchen, denn hinten drin wird er ein Foto in der Größe von Kanzleipapier finden, auf der Rückseite das Datum 1920 . Und bitte nicht vergessen, mir auch die Lupe mitzubringen, die liegt in einer kleineren Schublade, denn ich muss mir über etwas Klarheit verschaffen. Ich könnte fast schwören, dass dieser Rodolfo Valentino auf der Freitreppe des Palácio Guanabara zu sehen ist, als eine Gruppe Parlamentarier dem dort untergebrachten König Albert von Belgien einen Besuch abstattete. Das Foto zählt zu den Lieblingsaufnahmen meiner Mutter, es zeigt meinen Vater neben der Königin Elisabeth eine Stufe unterhalb des Königs. Der Kopf von Matildes Vater ist auch etwas weiter hinten zu sehen, und auf der letzten Stufe steht, wenn ich mich nicht irre, der Kurzbeinige mit Brillantine im Haar. Ich brauche dieses Foto unbedingt, damit ich den Kerl Papa zeigen kann, wenn er wieder bei mir hereinschaut. In einem Gespräch von Mann zu Mann könnte ich ihn überreden, sich nicht mit der Frau von Rodolfo Valentino einzulassen. Ich würde versuchen, ihn davon abzubringen, das himmelblaue Kleid zu kaufen, aber natürlich würde Papa mich den Satz gar nicht erst zu Ende sprechen lassen. Geh mir nicht auf die Nerven, Lilico, würde er sagen, halt dich da raus, und am Ende würde er, wie es ihm vom Schicksal vorherbestimmt war, in seiner Garçonnière mit sechs Kugeln in der Brust sterben. Und selbst wenn er auf mich gehört hätte, wäre er vielleicht trotz alledem in die Falle gegangen. Denn vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher