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Vergossene Milch

Vergossene Milch

Titel: Vergossene Milch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chico Buarque
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ahnte er, dass die Zeiten sich bald ändern würden, und mein Vater wäre niemals bereit gewesen, sich an eine Zeit anzupassen, die nicht die seine war. Sein Vermögen im Ausland schmolz zusammen, und ich kann ihn mir nicht vorstellen ohne seine jährlichen Reisen nach Europa, seine Kabine, seine Hotels, Restaurants und Frauen erster Klasse. In der Politik würde Kultiviertheit abgelöst von Schmierentheater und Bluff, und ich sehe meinen Vater auch nicht auf öffentlichen Plätzen um Stimmen werben, auf Tribünen steigen, Plebejern die Hand schütteln, in fettig verschmutzten Kleidern für Fotos lächeln. Selbst Le Creusot genoss nicht mehr das gleiche Ansehen wie in den ersten Jahren, als die französische Militärmission sich hier niedergelassen hatte. Jetzt wurden wir häufig von der Presse angegriffen, und dazu musste ich auch noch Dubosc ertragen, der bei jeder Zeile, die ich ihm übersetzte, schnaufte und
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sagte. Selbst
O Paiz
zog in seinen Leitartikeln über uns her, Karikaturen verhöhnten unsere Artillerie, stellten die Geschütze als Ausschuss vom Großen Krieg dar. Und von Tag zu Tag verloren wir Terrain an die Konkurrenz, die sich nicht scheute, gewisse Journalisten zu bestechen, mit denen wir noch gestern Gefälligkeiten ausgetauscht hatten. Dies vergiftete schließlich das Klima im Büro, die Sekretärin steckte mir, dass Dubosc so weit gegangen war, eine Liste meiner Telefongesprächspartner anzufordern. Bestimmt fürchtete er, ich könnte zur Konkurrenz überlaufen, womöglich gar vertrauliche Informationen schmuggeln. Dubosc kannte mich nicht, er hatte das Recht, meine Integrität in Frage zu stellen. Und umgekehrt, ich weiß nicht einmal, wer sein Vater war, der Stammbaum der Duboscs ist mir nicht bekannt. Doch während die Compagnie für mich fast ein väterliches Vermächtnis war, verbanden ihn damit lediglich kaufmännische Beziehungen, er hätte überhaupt keine Skrupel, auf vorteilhaftere Angebote einzugehen. Denn wenn er vorher sporadisch an den Strand oder hin und wieder an einem Wochentag zur Jagd auf Wasserschweine ging, so verschwand er jetzt tagaus, tagein aus mysteriösem Anlass, er konnte nur mit unseren Rivalen gemeinsame Sache machen. Und als er uns an einem Freitag vor zwölf Uhr ein schönes Wochenende wünschte und das Büro verließ, verlor ich die Geduld, gab der Sekretärin frei und beendete ebenfalls meinen Arbeitstag. Anschließend bereute ich meinen Ausbruch, zumal ich mit dem freien Nachmittag nichts anzufangen wusste. Ich bestellte in einer Konditorei einen Kaffee, zündete mir eine Zigarre an, um die Passanten zu beobachten, es kamen sogar zwei ehemalige Mitschülerinnen von Matilde vorbei, die ich vom Sehen kannte. Ich glaube, sie hatten mich auch gesehen, ich machte Anstalten mich zu erheben, aber sie legten einen Schritt zu und verschwanden in einer Ladenpassage. Ich schlenderte ein wenig die Avenida Central hinunter, bevor ich zu meinem Auto ging, und hielt auf dem Heimweg noch bei einem Blumengeschäft. Ich weiß nicht, ob Matilde nach unten ins Wohnzimmer gekommen wäre, wenn ich ihre Freundinnen zu einem Besuch eingeladen hätte. Ich glaube aber kaum, sie reagierte ja schon nicht mehr, wenn ich an ihre Tür klopfte. Womöglich hatte sie sogar die Frau des Arztes beleidigt, denn die war nie mehr zu einem Bad im Meer erschienen. Matilde schottete sich immer mehr in diesem Seitenzimmer des Chalets ab, eigentlich einer Rumpelkammer mit allerhand Krimskrams und einer alten Couch, auf der sie vielleicht stundenlang wie eine Scheintote lag. Sie hatte keine festen Essenszeiten, sie machte sich ihr Essen selbst warm und aß in der Küche, ohne mit jemandem zu sprechen. Zu Beginn ihrer Krise sah sie noch ihre Tochter an, nun machte sie nicht einmal das mehr, ich glaube, sie war gekränkt, als sie überraschend sah, wie Eulalinha sich an die Brust der Amme klammerte. Wenn die Milch so plötzlich versiegt, sagte die Amme, liegt es daran, dass die Mutter einen geliebten Menschen verloren oder eine große Enttäuschung in der Liebe erfahren hat. Als sie vom »geliebten Menschen« sprach, blickte sie zur Decke, und bei »Enttäuschung in der Liebe« sah sie mich an, als wäre ich ein schlechter Ehemann. Ausgerechnet ich, der Matilde genauso vermisste wie meine Tochter, und ich hatte nicht einmal eine andere Brust zum Trösten. Ich habe alles getan, um sie ins Leben zurückzuholen, eben gerade habe ich einen Armvoll Anthurien gekauft, um das Wohnzimmer zu beleben.

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