Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vergossene Milch

Vergossene Milch

Titel: Vergossene Milch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chico Buarque
Vom Netzwerk:
Matilde liebte die Blätter der Anthurie, so blutrot, sie erinnerten sie an Herzen aus Plastik. Ich lief durch das ganze Haus auf der Suche nach einer Vase für die Blumen, niemand war da, der mir hätte helfen können. Auf dem Herd standen kalte Töpfe mit Reis und schwarzen Bohnen, bestimmt stand die Köchin im Laden und flirtete, und das Kindermädchen spazierte hüftwackelnd mit Eulalinha über den Platz. Ich fand die Vase zwischen Spinnweben in der Besenkammer, die Möbel waren eingestaubt, das ganze Haus verlangte nach dem Blick der Hausfrau. Und während ich die Anthurien im Wohnzimmer anordnete, hörte ich zu meiner Überraschung Matilde leise weinen, hin und wieder sich ausweinen konnte ihr nur guttun. Ich war schon auf der Treppe, um ihr beizustehen, doch auf halbem Weg hielt ich inne und horchte genauer auf ihr Seufzen. Ich werde mir hier nicht die Blöße geben und Intimes über Matilde ausbreiten, aber ich sage, dass jede Frau eine geheime Stimme besitzt, mit einer charakteristischen Melodie, die nur der kennt, der mit ihr ins Bett geht. Es war die Stimme, die ich da hörte oder hören wollte, seit Wochen hatte ich nicht mit Matilde geschlafen. Und ich ergötzte mich an der Vorstellung, dass sie sich in diesem Augenblick liebkoste und dabei an mich dachte, so wie ich sie jeden Abend in meinem Schlafzimmer in Gedanken liebte. Auf Zehenspitzen erreichte ich das Treppenende, um nichts in der Welt hätte ich Matilde gestört, ich wollte sie bis zum Schluss belauern. Aber plötzlich schoss mir aus heiterem Himmel eine Hitzewelle in den Kopf, meine ganze Haut zog sich zusammen. Schlagartig überkam mich der Gedanke, bei Matilde sei ein Mann, ich hörte schon das Keuchen eines Mannes, vermischt mit ihrem Stöhnen. Meine Augen füllten sich gleichsam mit Blut, und die Parkettstäbe waren wie Fußabdrücke eines großen Mannes, Abdrücke von sandigen Füßen auf dem Weg zu Matilde. Ich sah auf dem ganzen Fußboden Abdrücke, alte und frische, von linken Füßen und von rechten, kommende und gehende, auch quer gerichtete, ein Puzzle von Fußabdrücken nebeneinander. Ich dachte, ich würde mich brüllend auf die beiden stürzen, die Kanaille in die Flucht schlagen und meine Frau ohrfeigen, bis ihr Gesicht entstellt wäre. Aber nein, gleich darauf schlich ich mich an Matildes schmachtendes Klagen heran, begieriger denn je verlangte es mich, sie zu belauern. Ich ging vorbei an den leeren Zimmern, aus dem Badezimmer hörte ich Schluchzen und Wasser laufen, Matilde dabei zu ertappen, wie sie mich in unserem Bett betrügt, hätte mich, ich weiß nicht warum, weniger erniedrigt, als zu sehen, wie sie sich im Stehen einem nassen Mann hingibt. Atemlos erreichte ich die halbgeöffnete Badezimmertür, und was ich sah, war Matilde, über das Becken gebeugt, als müsste sie erbrechen. Erst schoss mir durch den Kopf, sie könnte schwanger sein, dann sah ich ihre nackte rechte Schulter, sie hatte das Kleid ein Stück heruntergeschoben. Ich lief zu ihr, wollte sie umarmen, beschämt über meine hässlichen Gedanken, aber sie zog das Kleid abrupt zurecht, ließ das Wasser laufen und entzog sich mir. Und ich bemerkte Milchspritzer auf dem Waschbeckenrand, es roch im Raum nach Milch, Milch floss in das Kleid deiner Mutter, habe ich dir diese Geschichte nie erzählt? Dann nimm das nicht weiter ernst, nicht alles, was ich erzähle, muss aufgeschrieben werden, du weißt, dass ich zum Abschweifen neige. Ich will gern nur noch von den schönen Stunden sprechen, die ich mit Matilde erlebt habe, und bitte korrigier mich, wenn ich mich hier oder da täusche. Im Alter erzählen die Leute oft dieselben Geschichten von früher, aber nie ganz genau, denn jede Erinnerung ist bereits eine aufgewärmte Version einer vorausgegangenen Erinnerung. Selbst Matildes Aussehen begann ich zu vergessen, wie ich eines Tages feststellte, und das war für mich so, als verließe sie mich noch einmal. Es war eine Qual, doch je mehr ich die Erinnerung forcierte, umso mehr zerrann ihr Bild. Übrig blieben ein paar Farben, hier und da ein Aufblitzen, eine konturenlose Erinnerung, meine Gedanken an sie hatten keine konkrete Form, es war eher wie die Vorstellung von einem Land und nicht von einer Stadt. Es war wie die Vorstellung von ihrer Hautfarbe, der Versuch, sie auf andere Frauen zu übertragen, aber mit der Zeit vergaß ich auch meine Begierden, die Illustrierten wurden mir langweilig, ich wusste nicht mehr, was der Körper einer Frau ist. Ich empfing nicht

Weitere Kostenlose Bücher