Verhängnisvoll - Felsing, K: Verhängnisvoll
zärtlichen Berührungen Sehnsüchte weckten, die er sich verbot. Er schaffte es nicht, die Stimme seines Herzens abzuschalten, die ihm all das vor Augen führte.
Nani-ji hatte die Liebe zu ihm mit dem Leben bezahlt.
Sie war zwar nicht seine Partnerin gewesen, aber die einzige Liebe, die er je kennengelernt hatte. Er wäre im Wald gestorben, nachdem seine Eltern ihn ausgesetzt hatten. Nani-ji war selbst eine Verstoßene. Eine weise Frau, deren seherischen Fähigkeiten dem Dorfältesten nicht in den Kram passten. Er hatte eine Hetzjagd auf sie eröffnet, die sie zu einem Leben in der Wildnis verdammte. Nani-ji wusste, Narsimha würde folgen. Seine Eltern und die Dorfgemeinschaft waren überfordert mit einem Kind, dem Tigerkrallen wuchsen. Man hielt ihn für eine Ausgeburt des Teufels. Zwar verstand er im Grunde die Verzweiflungstat seiner Eltern, die einfache und ungebildete Leute waren, doch verzeihen konnte er es ihnen nicht. Er hatte heimlich am Sterbebett gesessen, als sie kurz nacheinander von dieser Welt gingen und die Tränen in den Augen seiner Mutter gesehen. Sie hatte ihn erkannt und ihn dennoch fortgestoßen. Es waren keine Tränen der Freude, ihn wohlbehalten zu sehen, es waren Spuren der Furcht.
„Wir können los.“ Simba registrierte Reeses Stimme, aber sie holte ihn nicht aus seiner Gedankenwelt.
Er wuchs in den Wäldern Indiens rund um sein Heimatdorf Nimtalai auf und begleitete Nani-ji auf Schritt und Tritt. Obwohl sie geächtet wurde, nahmen die Menschen Nani-jis Dienste heimlich in Anspruch und sie ließ sich das Mitteilen ihrer Visionen gut bezahlen. Sie lebten unter Blätterdächern, tranken Quellwasser und aßen die Früchte des Waldes. Nani-ji bezahlte über Jahre einen Dorfschullehrer, der ihm heimlich während langer Abende am Lagerfeuer Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte. Darüber hinaus besorgte sie unzählige Bücher aus der Stadt, in denen sich Simba in eine andere Welt träumte und als er fast erwachsen war, schickte sie ihn nach Mumbai zum Studium. Wie sie es schaffte, ihn zu den Privilegierten aufsteigen zu lassen, blieb ihm bis heute ein Rätsel. Sie bezahlte das winzige Zimmer, das er sich mit drei Kommilitonen teilte, seinen Lebensunterhalt und die Studiengebühren.
Als er nach Abschluss seines Maschinenbaustudiums in die Wälder zurückkehrte, um eine Zeit lang bei ihr zu bleiben, war die Katastrophe über ihn hereingebrochen.
„Narsimha?“
„Simba“, flüsterte er rau, „nenn mich wie meine Freunde Simba.“ Er verspürte das dringende Bedürfnis, sich augenblicklich bei einem Freund oder einer Freundin anzulehnen und zog Reese spontan in den Arm. Sein Gesicht drückte er in ihr weiches, duftendes Haar. Für einen Augenblick stand die Welt still, dann spürte er Reeses Zittern unter seiner Hand in ihrem Rücken und ließ sie abrupt los.
„Verzeih.“
Ihr Blick bohrte sich in seine Seele, ihre Finger lagen noch für einen Atemzug auf seiner Schulter und hinterließen eine Hitze, als hätten Brandeisen seine Haut gekennzeichnet.
Reese klimperte mit einem Schlüsselbund. „Ich weiß nicht, wie du hergekommen bist, aber wir fahren mit meinem Wagen.“
Er nickte. Wade hatte ihn auf seiner Hayabusa hergebracht und wartete mit Dix und Neil bei Starbucks auf seinen Anruf. Max sollte es nicht mitbekommen. Es reichte, wenn sie ihn später in Kenntnis setzten und nur, wenn sie ein brauchbares Ergebnis erzielten.
„Ich besorge jetzt eine Eintrittskarte für eines der nächsten Dodgers-Spiele und dann fahren wir zum Hospital. Du kannst deine Freunde schon herbeirufen.“
„Und dein Kollege wird nicht misstrauisch werden?“
„Ich bringe öfter Blutproben ins Labor und warte gleich auf die Ergebnisse. Er wird nicht einmal dazu kommen, einen Blick darauf zu werfen.“
Reese spielte ihm in die Karten, als hätte sie den Plan mit ihm gemeinsam ersonnen. Er lehnte sich in den Beifahrersitz zurück und schloss die Augen. Ihre Gesellschaft erwies sich als wohltuend, weil sie sich nicht als Quasselstrippe entpuppte und das Schweigen zwischen ihnen nichts Peinliches besaß. Sie erwartete keine Unterhaltung, sondern schien zu spüren, wie verhaftet er noch immer in Gedanken war, und ließ ihm ausreichend Raum zur Entfaltung. Dafür dankte er ihr im Stillen. Ihre Nähe tat gut.
Die letzten Ereignisse in Indien, bevor er Max begegnet war, zogen vor seinem geistigen Auge vorüber.
Als er Nani-ji in den Wäldern um sein Heimatdorf nicht fand, hatte er den Dorfältesten
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