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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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ich.
    Ich spürte Lillis Tod bereits in mich sickern, obwohl ich vollkommen lebendig war. Eine eisige, schwammige Taubheit kroch unter meine Haut und strömte durch meine Adern … Meine Hand streckte sich, als die kühle Woge ihres Abschieds durch meine Arme bis in die Fingerspitzen brandete.
    Genau das war es. Ein Abschied . Alles verabschiedete sich von mir. Selbst Zorn, Hass und Bitterkeit. Meine Seele.
    Das Geräusch, das Moreau beim Trinken von sich gab, klang fast wie ein Gurren – eine unzüchtige Variante der Töne, die man macht, um Babys in den Schlaf zu wiegen. Ich versuchte an Manda zu denken. Und an Sagan … Doch sie verschwanden immer weiter in der Finsternis einer anderen Welt. Bis sie mir nichts mehr bedeuteten. Nicht mehr.
    Alles verlangsamte sich und es war so still, dass ich einzelne Blätter im Wald rascheln hören konnte. Das Plätschern des Wassers im Fluss. Die Luft über meinem Kopf füllte sich mit einem lavendelfarbenen Leuchten. Gleichzeitig spürte ich, wie Lilli ihren Körper verließ. Ihr Gewicht drückte auf meine Brust. Auch ich ging. Sie nahm mich mit.
    Ein Anfall. Wenn ich nur einen Anfall provozieren könnte, dachte ich. Aber warum? Wen interessierte es? Wer würde sich an mich erinnern? Ich war nur ein zorniges, misstrauisches Mädchen, das glaubte unter einem Fluch zu leiden und alles und jeden hasste. Es war gut, dass ich ging. Für die Welt würde es besser sein. Was auch immer in mir war, welcher Funken Einzigartigkeit auch in mir wohnte, das alles musste ausgelöscht werden. Ich wollte nur, dass alles aufhörte, damit ich mich in einen dichten Nebel aus lavendelfarbener Vergessenheit träumen konnte …
    Das Allerletzte war ein Ton.
    Ich war immer davon überzeugt gewesen, dass der Tod etwas Überraschendes zu bieten hätte. Etwas so Unerwartetes, dass das Schlechte vor lauter Verblüffung nicht ganz so schlimm erscheinen würde. Doch dass das Überraschende ein Ton sein würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Allerdings war dies auch nicht der Tod, oder? La perte? Und der Ton war eigentlich auch eher unglaublich nervig und durchdringend als überraschend. Ein schrilles Pfeifen, das mir die Tränen in die Augen trieb, weil ich mir meine Vampirohren nicht zuhalten konnte.
    Dann geschah das Unfassbare. Moreau ließ von uns ab. Ich verspürte eine unglaubliche Erleichterung, als sich seine Lippen von meinem Hals entfernten und er den Druck seiner Hand an meinem Kopf löste.
    Ich war nicht gegangen. Zwar fühlte ich mich unendlich schwach, aber ich war noch da. Sofort versuchte ich den Kopf zu heben, aber Lillis Körper lag noch auf mir. Dennoch konnte ich aus den Augenwinkeln sehen, dass sich Moreau erhob und bitterböse über mich hinweg auf eine bestimmte Stelle blickte.
    Es musste der Ton gewesen sein, der so nervenaufreibend und schmerzhaft schrill war, dass er sich nicht mehr richtig konzentrieren konnte. Moreau stieg über uns hinweg und ging auf die freie Fläche zwischen Bunker und Turm zu.
    Dort brannte ein Feuer, das zuvor nicht dort gewesen war … Nein, für ein Feuer war es zu hell – es war eine wahre Funkenexplosion. Dann erkannte ich, worum es sich handelte: Feuerwerk. Ein kegelförmiger Vulkan, wie man ihn zu Silvester oder am Nationalfeiertag anzündete.
    Nur dass der Kegel auf der Seite lag. Eine gewaltige Fontäne horizontaler Funken spuckte er aus, und ab und zu wurde noch eine große farbige Lichtkugel in Richtung Wald geschossen. Dadurch wurde die ganze Fläche für meine empfindlichen Augen taghell erleuchtet. Ich musste blinzeln.
    Neben dem umgekippten Kegel stand ein kleiner, schwarzer Würfel. Selbst mit meinem getrübten Verstand wusste ich aus irgendeinem Grund, dass er die Quelle des Tons war.
    Moreau bewegte sich auf den Würfel zu. Zum Schutz vor dem Licht hatte er die Hand über die Augen gelegt. Jenseits von ihm war es so hell, dass ich den Vampir nur als lange schwarze Silhouette wahrnahm. Er näherte sich dem Würfel seitlich, sodass er von dem Funkenregen nichts abbekam.
    Als er nur noch wenige Meter entfernt war, beugte er sich vor und bewegte sich im Krebsgang weiter. Noch immer hatte er die Hand zum Schutz über den Augen. Der Würfel pfiff so unendlich laut und schrill, dass er höllische Qualen erleiden musste. Schließlich beugte er sich vor, um den schwarzen Würfel genauer anzusehen, und ich versuchte erneut mich zu erheben, doch ich hatte kaum genug Kraft, um meinen Rücken zu krümmen. Mit Lillis reglosem Körper auf mir

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