Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
nicht, wer. Erst jetzt merkt sie, wie sehr sie zittert.
Um sie herum bricht Jubel aus, erleichterter Applaus setzt ein und wird lauter. Trine klatscht nicht mit. Sie steht nur da und atmet schwer.
Es ist gut gegangen.
Sie kann nicht sagen, woher das Gefühl kommt, das sie nun mit voller Wucht erwischt. Erinnert sich nicht, wann sie das letzte Mal geweint hat.
Aber jetzt weint sie.
Als wollte der Körper all die ungeweinten Tränen hinausspülen.
Sie kann nicht sagen, wie lange sie so im Regen steht und weint. Aber als sie sich umdreht und auf die Polizeiabsperrung zugeht, auf die Fernsehkameras und all die Zuschauer, wohl wissend, dass sie noch einen weiteren Kampf auszufechten hat, ehe der Tag vorüber ist, richtet sie sich auf und schiebt das Kinn vor.
Und ihr geht auf, dass es lange her ist, dass sie sich so stark gefühlt hat.
85
Henning streckt sich, um zu sehen, was passiert. Applaus und Jubel branden über das Wohnviertel. Die Geiselnahme ist beendet, offensichtlich ohne Blutvergießen.
Henning gibt dem Nachrichtenredakteur, den er in der letzten halben Stunde nonstop am Ohr hatte, einen kurzen Zwischenbericht. Soweit es von seinem Platz hinter der Polizeisperre möglich war, hat er die Redaktion kontinuierlich auf dem Laufenden gehalten, damit sie die 123nyheter -Leser im Minutentakt mit Aktualisierungen füttern konnten.
Aber dass Trine nach Jessheim gekommen ist, um Remi aus Emilie Blomviks Haus zu locken, hat Henning überrascht. Eigentlich sollte er sich fernhalten, da er ohnehin nichts über seine Schwester berichten kann, aber es interessiert ihn brennend, was sie mit dem Geiseldrama zu schaffen hat.
Sie läuft energischen Schrittes und mit festem Blick auf die Polizeisperre zu. Hoch erhobenen Hauptes. Wie selbstbewusst sie aussieht, denkt Henning. Sie zieht die Schultern hoch, als sie auf die TV2 -Reporterin Guri Palme zugeht, rückt ihre Kleidung zurecht und drückt die Schultern nach hinten.
Henning schiebt sich ein wenig näher heran und kassiert einen missbilligenden Blick von einem nebenstehenden Journalisten. Trine bleibt vor der TV2 -Kamera stehen, während Palme auf den Bescheid wartet, dass sie sendebereit sind. Dann fragt sie, was passiert ist, und erkundigt sich nach Trines Rolle in dem Drama. Und Trine antwortet, direkt und unaufgeregt, ohne ihre eigene Rolle zu überhöhen. Sie betont, wie froh sie ist, dass niemand mit dem Leben bezahlen musste.
»Frau Juul-Osmundsen, eigentlich hatten Sie heute am frühen Nachmittag eine Pressekonferenz angesetzt, in der Sie Ihre Version der Ereignisse der letzten Tage darlegen wollten. Was können Sie dazu sagen?«
»Ich kann dazu nur sagen, dass ich dem Ministerpräsidenten mein Rücktrittsgesuch übergeben habe und dass er meinen Rücktritt angenommen hat. Alles Weitere wird sich zeigen.«
»Dann bestätigen Sie also, dass Sie als Justizministerin zurücktreten?«
»Das tue ich.« Trine nickt.
»Warum?«
»Ich glaube nicht, dass die Bürger unseres Landes dafür eine detaillierte Begründung brauchen. Was Sie in den letzten Tagen über mich berichtet und geschrieben haben, dürfte Erklärung genug sein.«
»Dann geben Sie zu, dass die Vorwürfe gegen Sie berechtigt sind?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber die Schlagzeilen der vergangenen Tage machen es mir unmöglich weiterzumachen.«
»Wenn Sie das konkretisieren könnten …«, fordert Palme sie auf.
»Nein, das kann ich nicht.«
Palme verliert für einen kurzen Augenblick die Fassung, reißt sich aber schnell wieder zusammen. »Wie waren die letzten Tage für Sie?«
Trine holt tief Luft. »Es waren harte Tage, etwas anderes kann ich nicht sagen.«
»Meinen Sie nicht, dass Ihr Rücktritt von der Mehrheit der Bevölkerung als Eingeständnis Ihrer Schuld betrachtet werden wird?«
»Doch, darüber bin ich mir durchaus im Klaren. Aber das soll jeder beurteilen, wie er will.«
Palme zögert einen Augenblick, ehe sie fortfährt: »Die Identität des jungen Parteipolitikers ist nach wie vor unbekannt und von keiner Seite bestätigt worden. Haben Sie nach den Ereignissen der letzten Tage schon mit ihm sprechen können?«
»Nein«, sagt Trine.
»Gibt es irgendetwas, das Sie ihm gern sagen würden, hier und jetzt?«
»Nein.«
»Werden Sie sich bei ihm entschuldigen?«
Trine sieht direkt in die Kamera. »Es gibt nichts, wofür ich mich entschuldigen müsste. Aber jetzt muss ich weiter.«
Es werden weitere Fragen gestellt, sowohl von Palme als auch anderen Reportern, aber
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