Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
»So«, sagt er und lächelt den Patienten an, der mit glasigem Blick ins Nichts starrt. Sund tupft ihm das Wasser aus den Mundwinkeln. Nur die Bartstoppeln am Kinn leisten Widerstand. Die Haut ist so blass, dass sie fast durchsichtig wirkt. »Kann ich sonst noch was für Sie tun?«
Keine Regung in dem nackten, faltigen Gesicht des Mannes. Sund sieht ihn liebevoll an. Der Patient ist jetzt schon gut anderthalb Jahre bei ihnen, aber der Tod scheint ihn nicht holen zu wollen. Dabei ist nicht mehr viel von ihm übrig, nur noch Haut und Knochen und Haare, die sich von der Kopfhaut lösen. Auch sein starrer Blick wechselt selten die Richtung. Nicht einmal die Augenlider scheinen noch zu funktionieren.
Er sieht aus wie Papa, denkt Sund. Auch der hat die letzten Jahre seines Lebens so dagelegen und nur noch selten, sehr selten Kontakt zur Außenwelt gehabt. Er hat fast nur noch die Zimmerdecke angesehen – oder was immer er sonst fixierte. Sechs Jahre sind seit seinem Tod vergangen, trotzdem fühlt es sich wie gestern an.
Sund zieht sich leise zurück. Im Flur stößt er auf einen anderen Patienten mit einem Angehörigen, einem Enkel vielleicht, der ein paar Schritte mit ihm geht. Langsam. Er lächelt den beiden zu, zieht sein Handy aus der Tasche und sieht, dass es schon nach fünf ist. Er spürt einen Anflug von Verzweiflung. Jetzt kommt sie gleich und holt Ulrik ab. Dann vergeht wieder eine ganze Woche, in der er keinen Anteil am Leben seines Sohnes hat. Außer wenn Martine seine SMS beantwortet und ihm ein paar Informationskrumen hinwirft. Er weiß, dass sein Gejammer und seine Forderungen ihr auf die Nerven gehen, aber wenn er schon nicht jeden Tag da sein und alles aus Ulriks Mund hören kann, dann muss sie ihm diese Informationen doch geben. Wie es dem Jungen geht, was er gerade lernt. Mit wem er spielt und bei wem er zu Besuch gewesen ist. All das bleibt ihm vorenthalten, weil Martine und er sich nicht mehr lieben. Oder besser gesagt: weil sie ihn nicht mehr liebt.
Obwohl auch er selbst möglicherweise eine neue Liebe gefunden hat, ist ihm der Gedanke zuwider, dass irgendjemand seinen Platz eingenommen hat, nicht nur in Martines Bett, sondern auch in Ulriks Leben. Und dass Ulrik womöglich einen neuen Papa lieb gewinnen könnte, während er selbst nur noch der alte wäre, der seinen Sohn mit zur Arbeit nimmt, während sie doch eigentlich etwas Schönes zusammen unternehmen sollten.
Hätte er genug Geld, würde er das ganz sicher auch tun. Zum Glück hat er auf Station 4 einen elektrischen Rollstuhl aufgetan, mit dem Ulrik spielen kann. Der Junge hat ihm nur versprechen müssen, auf die Patienten Acht zu geben. Und das tut er natürlich, er ist wirklich verständig für sein Alter. Und er liebt es, durch das Krankenhaus zu brummen. Wo ist der kleine Racker eigentlich gerade?
Die Schuhsohlen quietschen rhythmisch über das Linoleum, während er die Korridore absucht. Im Fernsehzimmer trifft er nur Guttorm und ein paar andere, die sich schon wieder darüber streiten, welcher Sender laufen soll.
Sund geht weiter. Von einem glücklichen Neunjährigen, der in einem Rollstuhl herumflitzt, keine Spur. Er überprüft die Flure auf der einen Seite der zu einem lang gestreckten H ausgelegten Etage, wiederholt die Suche dann auf der anderen Seite. Und schließlich entdeckt er ihn vor einem der Zimmer. Auf dem Flur, wo hinter jeder Ecke der Tod lauert, wirkt er mit einem Mal gar nicht mehr so klein.
Sund lächelt wie immer im Stillen, wenn er seinen Sohn sieht, ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein. Ihm wird vor Stolz ganz warm ums Herz. Aber irgendetwas stimmt nicht mit dem Kleinen. Er sitzt so seltsam da. Die Hände zwischen die Oberschenkel geschoben. Die Füße über Kreuz. Und er wippt mit dem Oberkörper vor und zurück, während seine Augen auf den Boden gerichtet sind, der im Licht der Leuchtstoffröhren kühl glänzt.
»Ulrik, was ist los? Alles in Ordnung?«
Ulrik antwortet nicht, er wippt nur weiter vor und zurück. Sund beugt sich hinab und streicht ihm über die Haare. Einen Moment lang hat er Angst, dass einer der Patienten dem Kleinen etwas angetan haben könnte, aber er verwirft den Gedanken gleich wieder. Manchmal werden sie ruppig und wütend, aber sie würden ihre Wut niemals gegen den Jungen richten.
»Ulrik«, fragt Sund noch einmal, »was ist denn los?«
Keine Antwort.
Sund blickt auf und liest den Namen auf dem Schildchen neben der angelehnten Tür.
»Warst du wieder bei Erna?«, fragt
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