Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
veranlasst sie, den Kopf zu drehen. Die Klinke von Sebastians Zimmertür bewegt sich nach unten.
Nein!, ruft sie lautlos. Tu’s nicht, Sebastian! Bleib, wo du bist!
Aber die Tür geht auf, und sein kleines Gesicht kommt zum Vorschein. Emilie schließt die Augen, sie würde ihm so gerne ein Zeichen geben, dass er zurück in sein Zimmer gehen soll, aber ihre Hände sind gefesselt. Sie flüstert ganz leise, dass er zurückgehen soll, aber Sebastian hört nicht zu, er tut nicht, was sie sagt, er tut nie, was sie sagt. Stattdessen kommt er zu ihr gelaufen.
»Mama«, sagt er laut. »Ich hab Hunger.«
Natürlich hat er Hunger, er hat den ganzen Tag noch nichts zu essen oder trinken gehabt.
»Ich weiß, mein Schatz. Aber ich habe im Moment nichts zu essen für dich. Du musst noch ein bisschen warten. Willst du nicht wieder in dein Zimmer gehen und spielen? Dann komm ich bald und bring dir was.«
Sebastian rührt sich nicht vom Fleck, er sieht seine Eltern wortlos an. »Hunger«, sagt er, dreht sich um und geht in Richtung Küche.
»Sebastian«, sagt Emilie, jetzt lauter. »Geh da nicht rein!«
Aber Sebastian geht.
»Sebastian, geh da …«
»Sebastian!«, ruft Mattis mit lauter Stimme, die die Stille durchschneidet. »Ich verbiete dir, in die Küche zu gehen. Hörst du?«
Sebastian bleibt stehen und dreht sich um. Er ist es nicht gewohnt, dass so streng mit ihm gesprochen wird. Schon die kleinste Veränderung in der Stimmlage bringt ihn zum Weinen, besonders wenn er glaubt, etwas falsch gemacht zu haben.
»Du kannst da jetzt nicht rein«, sagt Emilie so sanft, wie sie es zustande bringt.
»Warum nicht?«
»Weil …«
Im nächsten Moment taucht Remi hinter ihm auf.
Er sieht sie an, dann Sebastian, packt ihn am Arm und zieht ihn hinter sich her in die Küche.
83
Remi ignoriert die Rufe hinter sich. Er schließt die Tür und setzt sich auf einen der Küchenstühle.
Der Druck hinter den Schläfen wird stärker. Er verzieht das Gesicht. Schließt die Augen. Probiert, an etwas anderes als an den Schmerz zu denken.
Als er die Augen wieder aufmacht, steht der kleine Junge vor ihm. In der Hand hält er ein rotes Spielzeugauto. »Hunger«, sagt er vorwurfsvoll.
Remis Mund klappt auf. »Hm?«
»Ich hab Hunger«, wiederholt der Junge.
»Ach ja?« Remi starrt ihn an.
»Ich will was essen.«
»Okay«, sagt Remi schließlich. »Was willst du haben?«
»Koan Fläcks.«
Cornflakes. Die hat er auch am liebsten gegessen, als er klein war. Und er isst sie noch heute gern.
Sebastian, denkt er. Du und ich.
»Dann musst du mir aber zeigen, wo die Sachen sind«, sagt er zu dem Jungen.
Sebastian geht zu dem Schrank, unter dem die leeren Flaschen stehen, nimmt die Packung Cornflakes heraus, holt sich einen blauen Plastiklöffel aus der Besteckschublade, kommt zurück und stellt die Sachen vor Remi auf den Tisch. Dann läuft er zum Kühlschrank und macht sich so groß wie möglich, reicht aber trotzdem nicht ganz an den Milchkarton heran. Remi steht auf und holt ihn für Sebastian heraus, setzt den Jungen auf einen Stuhl und gibt Flocken und Milch in eine Schale. Er sieht ihm zu, wie er schlingt, kleckert, schmatzt.
Aus weiter Ferne hört er eine Stimme. Eine Frau. Sie ruft seinen Namen. »Remi. Sind Sie da?«
Ja, er ist hier. Wir sind hier. Nur wir beide, Sebastian, du und ich.
Er steht auf. Nimmt die Waffe. Überlegt, wo er es tun will. Im Schlafzimmer vielleicht? Eine Sauerei wird es in jedem Fall geben. Vielleicht sollte er warten, bis Sebastian fertiggegessen hat. Mit leerem Magen reist es sich schlecht.
Er geht zur Tür, schiebt sie auf. Denkt, wie still es bald sein wird. Endlich. Zusammen mit Sebastian wird er es schaffen, den entscheidenden Schritt zu tun. Zusammen werden sie das Licht aller Lichter sehen.
Emilies Körper wird von Schluchzern geschüttelt. Sie weint so sehr, dass sie kaum noch Luft bekommt.
Als sie wieder einigermaßen ruhig atmen kann, nimmt sie all ihre Kraft zusammen und versucht noch kräftiger und verzweifelter als vorher, sich loszureißen. Ein einziger Gedanke hält sie aufrecht, der Gedanke an Sebastian und was mit ihm in der Küche passiert. Jede Sekunde zählt, sie ruckt und zerrt, merkt, dass ihre Handgelenke hinter dem Rücken immer feuchter werden, zieht und zerrt, ruckt und reißt. Das Blut macht ihre Hände schmierig, und es fühlt sich an, als würde das Seil tatsächlich nachgeben. Sie zieht es mit aller Kraft auseinander, beißt die Zähne zusammen und spürt den
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