Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
feuchtwarmen Fleck an ihrem Rücken wachsen.
Beim nächsten Ruck ist plötzlich kein Widerstand mehr da.
Sie zieht die Hände nach vorn, sie sind blutverschmiert, aber sie fühlt nichts, spürt keinen Schmerz. Sie ist frei. Mattis will etwas sagen, aber sie zeigt ihm an, dass er still sein soll, lauscht auf Geräusche aus dem Nebenraum.
Ihr erster Impuls ist, in die Küche zu stürmen, ehe es zu spät ist, und die Aufmerksamkeit von Sebastian auf sich zu lenken. Aber es ist unmöglich einzuschätzen, was sie mit so einer Aktion auslösen würde. Möglicherweise wird Remi Amok laufen.
Was soll sie also tun?
Emilie sieht sich um, sucht irgendetwas, das sie als Waffe hernehmen und womit sie ihn außer Gefecht setzen kann. Es reicht nicht, Remi auf die Bretter zu schicken, falls sie das schaffen sollte. Er darf nie wieder aufstehen.
Die Gewichte, denkt sie. Die Hanteln, die Johanne ihr zu Weihnachten geschenkt hat. Sie hat sie unters Sofa gelegt, falls sie zwischendurch die Lust überkommen sollte zu trainieren.
Emilie läuft zum Sofa, legt sich auf den Bauch und entdeckt die Hanteln zwischen Staubmäusen, Legosteinen und einer alten Traube, die inzwischen eher wie eine Rosine aussieht. Sie streckt den Arm aus und bekommt eine Hantel zu fassen, rollt sie zu sich heran. Als sie aufsteht und die Hantel in Brusthöhe hebt, denkt sie, dass sie, falls sie hier lebend herauskommt, endlich mit dem Training anfangen wird, statt immer nur davon zu reden. Sie wird ihr Leben neu sortieren, alles besser machen und versuchen, Mattis so zu lieben, wie er ist, und nicht nur das Rentier in ihm.
Emilie geht zur Küchentür. Atmet tief ein.
In dem Augenblick bewegt sich die Klinke nach unten.
Remi antwortet nicht.
Trine dreht sich zu der Unterhändlerin um. Sie sieht zum Einsatzleiter und zu den uniformierten Beamten, die sich wie auf ein Zeichen alle gleichzeitig in Bewegung setzen. Der Schrei einer Geisel bedeutet, dass Gefahr im Verzug, Leben in Gefahr ist.
Die Männer des Sondereinsatzkommandos gehen in Stellung, Befehle fliegen durch die Luft, Codes und Warnungen, die für Trine keinen Sinn ergeben.
Alle sind einsatzbereit.
Trine schließt die Augen.
Bitte, sagt sie im Stillen. Bitte lass es gut ausgehen.
84
Emilie hebt die Hantel über den Kopf. Sie ist bereit zuzuschlagen. Da sie nicht weiß, ob Remi Sebastian dabeihat, stellt sie sich hinter die Tür, als diese aufgeht. Remi kommt heraus, Sebastian ist gleich hinter ihm. Keiner der beiden hat sie gesehen.
Emilie schließt die Augen und reißt den Arm hinunter. Sie hat nur noch einen Gedanken: Schlagen, schlagen, schlagen, bis es nichts mehr zu schlagen gibt.
Im selben Augenblick knallt es so laut, wie sie es noch nie knallen gehört hat, und als sie die Augen wieder öffnet, ist ihr klar, dass Mattis’ Jagdgewehr abgefeuert worden sein muss, aber sie lässt sich nicht aufhalten und schlägt mit der Hantel immer wieder zu. Sie spürt, dass sie etwas trifft, auch wenn sie nicht weiß, was.
Sie will gerade noch einmal zuschlagen, als eines der Wohnzimmerfenster zersplittert und der Boden unter den schweren Schritten uniformierter Männer erbebt. Plötzlich kann sie ihren Arm nicht mehr bewegen. Schreie mischen sich ineinander, Emilie versteht kein Wort dessen, was gesagt wird, sie konzentriert sich nur darauf, weiter zu schlagen und zu schlagen und zu schlagen, aber es geht nicht. Jemand hält sie fest.
Sie schnappt nach Luft. Sieht Remis Füße unter einem Haufen von Männern. Seine Waffe liegt unter dem klobigen schwarzen Stiefel auf dem Birkenparkett. Weiße Flocken rieseln von der Decke, als würde es drinnen schneien.
Erst in diesem Moment weiß sie, dass es vorbei ist.
Durch das Wirrwarr der Befehle dringt leises Kinderweinen an ihr Ohr. Emilie reißt sich los und läuft zu ihrem kleinen Jungen, der sie mit weit aufgerissenen, feuchten Augen ansieht. Seine Wangen sind rot. Und in der Küche liegt Lightning McQueen auf die Seite gekippt neben einer fast leeren Schale Cornflakes. Alles ist verdreckt, und Emilie versteht gar nichts mehr, aber das spielt in diesem Augenblick keine Rolle.
Sie drückt ihn fest an sich und denkt, dass nichts auf der Welt sie dazu bringen kann, ihn jemals wieder loszulassen.
Trine merkt nicht, dass der Nieselregen immer dichter wird, bis es richtig schüttet. Sie fühlt sich wie ein geplatzter Reifen, schlaff und leer, als sich eine Hand auf ihre Schulter legt und jemand etwas zu ihr sagt. Aber sie hört nicht, was, weiß
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