Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
Oslo gezogen. Ein Sohn, der sie nicht oft besuchte, dessen Bild jedoch bei ihr hing. Tom Sverre Pedersen mit Familie, Arzt an der Uniklinik mit Haus in Vinderen. Das Familienfoto wurde von der Wand gerissen und zerstört.
Das ist bestimmt wichtig, denkt sich Bjarne, nur dass er die Gründe dafür noch nicht kennt.
Am merkwürdigsten findet er aber, dass niemand etwas gehört oder gesehen hat. Weder Pfleger noch Personal haben jemanden bei ihr ins Zimmer gehen oder aus diesem herauskommen sehen. Von denen, mit denen Bjarne gesprochen hat, wollte niemand etwas Schlechtes über sie sagen. Sie war unauffällig, redete kaum mit jemandem und strickte die meiste Zeit. Eine alte Frau, die sich um ihren eigenen Kram kümmerte.
Aber es gibt einige, mit denen wir noch nicht gesprochen haben, denkt Bjarne. Mit ihrem zuständigen Pfleger zum Beispiel, Daniel Nielsen, der sich am häufigsten um sie gekümmert hat. Dann die ehrenamtlichen Helfer. Und nicht zuletzt der kleine Junge, der im Rollstuhl herumgefahren ist und die Leiche entdeckt hat. Er könnte dem Täter begegnet sein. Ein jeder von ihnen könnte etwas gesehen haben. Sogar Leute unten auf der Straße, Nachbarn.
Wir haben gerade erst begonnen, an der Oberfläche zu kratzen, denkt er, als linker Hand vor ihm das Präsidium mit den grauen Wänden und den blank glänzenden Fenstern auftaucht. Der Gedanke spornt ihn an. Er freut sich darauf, sich in den Fall zu stürzen.
Ja, denkt er lächelnd und fährt ins Parkhaus.
Du liebst diesen Job noch immer.
9
Trine Juul-Osmundsen eilt in ihr Arbeitszimmer, klappt den Laptop auf, klickt gleich mehrfach auf das Internet-Icon, bis sich der Browser endlich öffnet, und ruft die Startseite von VG Nett auf. Was sie dort sieht, verschlägt ihr den Atem. Zuoberst ein großes Porträt von ihr, darunter die Schlagzeile:
SEXUELLE NÖTIGUNG
Justizministerin Trine Juul-Osmundsen wird vorgeworfen, einen jüngeren männlichen Kollegen sexuell belästigt zu haben.
Was zum Teufel …
Trine klickt sich zu dem Artikel durch, während sich ihr Herz im Brustkorb überschlägt. Der erste Satz wiederholt noch einmal die Aussage des Aufmachers. Was in aller Welt …?, denkt Trine, während sie weiterliest.
Der Übergriff soll im vergangenen Herbst auf dem Parteitag in Kristiansand stattgefunden haben, wo Juul-Osmundsen zuvor eine flammende Rede gehalten hatte. Mehrere Kommentatoren ließen anschließend unabhängig voneinander verlauten, die Ministerin habe das Zeug zur künftigen Ministerpräsidentin. Nun aber ist natürlich fraglich, ob daraus noch etwas wird. Quellen, mit denen VG in Kontakt steht, geben an, dass sie am selben Abend einen jüngeren Politiker sexuell belästigt hat, der später versucht haben soll, in der Angelegenheit bei der Ministerin vorzusprechen – vergeblich.
»Was ist los?«
Trine zuckt zusammen, schlägt den Laptop heftiger zu als beabsichtigt und sieht ihren Ehemann an, der nur mit einer blau-schwarz gestreiften Pyjamahose bekleidet in ihr Arbeitszimmer gekommen ist. Das kurze graue Haar steht ihm zu Berge, und seine Augen sind noch ganz verschlafen. Der Dreitagebart gibt seinen Wangen einen dünnen Hauch von Grau und Schwarz, aber seine Gesichtshaut zeugt von vielen Stunden an der frischen Luft. Die Hals- und Nackenmuskeln sind straff wie Stahlseile.
Selbst nach vier Jahren Ehe wird Trine noch immer ganz warm, wenn sie ihn ansieht, ungeduscht und unrasiert, mit bloßem Oberkörper. Jetzt aber bohrt sich sein neugieriger, noch schlaftrunkener Blick tief in ihr Inneres und reißt eine klaffende, brennende Wunde.
»Hat es geklingelt?«, fragt er.
Trine sieht ihn an, aber ihr Blick gleitet weg, findet keinen Halt. Nun ist ihr auch klar, wieso draußen so ein Presserummel ist. Und dass sicher noch mehr kommen wird.
»Ja«, sagt sie.
»So früh?«
»H-hm«, murmelt sie zerstreut. Sie kann ihm nicht in die Augen sehen, weiß nicht, was sie sagen soll. Wie sie erklären soll, was passiert ist und passieren wird.
Trine will sich an ihm vorbeischieben, als er den Arm nach ihr ausstreckt. »Hallo«, sagt er. »Guten Morgen.« Er lächelt und versucht, sie an sich zu ziehen, aber das kann Trine jetzt nicht. Sie windet sich aus seinem Griff, murmelt, dass sie keine Zeit hat. Glücklicherweise lässt er sie los.
Sie geht in die Küche und stemmt sich auf der Arbeitsplatte ab, flucht innerlich, bis sie ihren Mann hinter sich hört. »Ich springe kurz unter die Dusche.«
Er ist schon auf dem Weg ins Bad, als Trine
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