Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
überhaupt je darauf eingeht. Die Öffentlichkeit muss nicht wissen, was mit Erna Pedersens Augen passiert ist.
Henning steht auf, um nachzusehen, ob der Beitrag erschienen ist und den angemessenen Platz auf der Startseite bekommen hat.
Hat er nicht.
Stattdessen liest er mit wachsendem Erstaunen von den Vorwürfen gegen seine Schwester Trine Juul-Osmundsen. Kurz darauf ist er angezogen und hat die Nummer von Karl Ove Marcussen in der Helgesens gate herausgesucht.
Es vergehen einige Sekunden, ehe eine verschlafene männliche Stimme antwortet.
»Hallo, ich heiße Henning Juul. Ich bin der Sohn von Christine, Ihrer Nachbarin. Sie sind der Hausmeister, nicht wahr?«
»Ja.«
»Gut. Ich müsste Sie nämlich um einen großen Gefallen bitten.«
Als Trine in den Tag hinaustritt, lässt das mehrstimmige Gebrüll sie einen Augenblick innehalten. Ein Schwall an Worten und Sätzen schleudert ihr entgegen, aber selbst wenn sie es versuchte, könnte sie keine Frage von der anderen unterscheiden.
Die Sicherheitskräfte kämpfen eine schmale Passage für sie frei. Sie hält den Blick konsequent auf den Boden geheftet. In einem Baum im Nachbargarten erahnt sie die Konturen eines Fotografen. Die Linse ist auf sie gerichtet, als würde er auf sie schießen.
Trine ist erstaunt, wie viele Menschen vor ihrem Haus Platz haben. Als die schwarze Regierungslimousine sich in ihr Blickfeld schiebt, peilt sie die offene Tür auf der rechten Seite an, während die Sicherheitskräfte versuchen, die geifernde Horde auf Distanz zu halten. Irgendwie klappt es, sie schafft es auf die Rückbank, aber obgleich die Scheiben abgedunkelt sind, sieht sie die Blitze aufflackern.
Der Wagen rollt los. Trine dreht sich um und hält nach eventuellen Verfolgern Ausschau.
»Die hängen sich garantiert an uns dran«, sagt Trines Fahrer und sucht ihren Blick im Rückspiegel.
Trine mag ihn, den älteren Herrn, der in ihren drei Amtsjahren nur ein einziges Mal krank gewesen ist. Unabhängig vom Wetter oder welchen Vorkommnissen auch immer begegnet er ihr stets mit ruhiger, angenehmer Stimme. Im Innern des Wagens kann sie die Pausetaste drücken. Sie unterhält sich gern mit ihm, mag seinen Geruch. Sie weiß nicht, ob er die Nachricht des Tages schon mitbekommen hat, will aber auch nicht darüber reden, wenn es nicht unbedingt nötig ist.
Trine hält ihr Handy umklammert, das nonstop klingelt. Am liebsten würde sie mit aller Kraft gegen den Sitz vor sich treten, und sie verliert beinahe die Fassung, als sie sieht, dass ihre Strumpfhose unter dem Knie eine Laufmasche hat. »Ministerin in Auflösung begriffen«, wird sicher irgendeine Zeitung titeln – das wird der Lacher in den Redaktionen. Gut, dass sie heute nicht mehr ins Parlament muss. Obwohl es dort im Kiosk Strumpfhosen gäbe.
Normalerweise nutzt Trine die Fahrt für die Zeitungslektüre. Nicht so an diesem Tag. Ihr graut schon davor, wenn der Wagen hält und sie sich den Wölfen stellen muss. Und dann sieht sie das Aufgebot an Presseleuten, die sich im Regierungsviertel versammelt haben.
Trine konzentriert sich auf das Geräusch ihrer Absätze. Klick, klack, schnell, hart. Fragen spülen wie Wellen über sie hinweg, aber sie reagiert nicht. Der Singsang ist selbst dann noch zu hören, als der Portier die Tür hinter ihr ins Schloss gezogen hat. Erst als sie in den Fahrstuhl steigt und die Türen hinter ihr zugehen, verstummt der Lärm. Stattdessen hört sie ihren eigenen hektischen Atem.
Trine schließt die Augen, während sie nach oben fährt, und schlägt sie erst wieder auf, als die Türen sich öffnen. Auf dem Flur spürt sie sofort wieder die intensiven Blicke der Entgegenkommenden. Normalerweise grüßt sie sie mit einem freundlichen Nicken. Aber dazu ist sie gerade nicht in der Lage. Konzentrier dich auf deine Füße, denkt sie, auf deine Füße.
Vor der Tür zu dem Flügel, in dem Trine und die Verwaltung des Justizministeriums ihre Büros haben, wird sie von der Kommunikationschefin Katarina Hatlem abgefangen. Sie nimmt Trine beiseite, während sie noch telefoniert. »Verstanden«, sagt sie. »Trine ist noch nicht da. Wir müssen später darauf …« Sie verdreht die Augen. »Gut«, sagt sie schließlich. »Die Forderungen des Volkes sind registriert. Hören Sie, ich muss zu einer Sitzung. Auf Wiederhören.«
Sie legt auf und schüttelt ihre langen, roten Locken.
Katarina Hatlem ist mit der Zeit eine von Trines allerbesten Freundinnen geworden. Mit ihr kann Trine über alles reden.
Weitere Kostenlose Bücher