Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
wird. Und das ist noch lange nicht das Wunderlichste, was zwischen Künstler und Volk geschehen kann.
Es nützt nicht viel, um Unabänderliches zu trauern und eine verlorene Unschuld zu beklagen, aber man tut es doch, wenigstens der Dichter tut es zuweilen. Und so hat auch für mich der Gedanke, ich könnte durch Zauber alle meine Dichtereien wieder zu meinem Privateigentum machen und mich ihrer als ein unbekannter Herr namens Rumpelstilzchen freuen, einen großen Reiz. Irgend etwas im Verhältnis zwischen Künstler und Welt ist nicht in Ordnung, sogar die Welt fühlt das zuweilen, wie sollte es der Künstler nicht sehr viel empfindlicher spüren. Etwas von der Enttäuschung, mit der der Künstler, auch wenn es alle Erfolge hat, bedauert, sein Werk an die Welt hingegeben zu haben, etwas von dem Jammer darüber, daß er etwas Geheimes, Geliebtes und Unschuldiges hergegeben, verkauft und preisgegeben hat, klang mir schon in jungen Jahren aus mancher von mir geliebten Dichtung entgegen, und am meisten aus einem kleinen Grimmschen Märchen, einem von den Unkenmärchen. Ich habe es niemals ohne einen Schauer und leisen Seelenschmerz wieder lesen können. Da man eine solche magische Dichtung nicht nacherzählen darf, setze ich das Märchen im Wortlaut an den Schluß meiner Aufzeichnung:
»Ein Waisenkind saß an der Stadtmauer und spann; da sah es eine Unke aus einer Öffnung unten an der Mauer hervorkommen. Geschwind
breitete es sein blauseidenes Halstuch neben sich aus, das die Unken gewaltig lieben und auf das sie allein gehen. Alsbald die Unke das erblickte,
kehrte sie um, kam wieder und brachte ein kleines goldenes Krönchen getragen, legte es darauf und ging dann wieder fort. Das Mädchen nahm die
Krone auf, sie glitzerte und war von zartem Goldgespinst. Nicht lange, so kam die Unke zum zweitenmal wieder: wie sie aber die Krone nicht mehr
sah, kroch sie an die Wand und schlug vor Leid ihr Köpfchen so lange dawider, als sie nur noch Kräfte hatte, bis sie endlich tot dalag. Hätte das
Mädchen die Krone liegen lassen, die Unke hätte wohl noch mehr von ihren Schätzen aus der Höhle herbeigetragen.«
1947
Aus Martins Tagebuch
V orgestern war der wichtigste Tag meines Lebens. Da habe ich zum ersten Male etwas erlebt und zu spüren bekommen, was ich vorher gar nicht kannte und wovon mir doch jetzt scheint, ich habe es immer und immer gesucht und geahnt mein Leben lang.
Es hängt mit den Träumen zusammen. Diese hatten mich ja schon immer beschäftigt, und oft war ich erstaunt und traurig darüber, wie flüchtig Träume sind, wie schnell sie am Morgen vergehen, wie schüchtern sie vor der leisesten Berührung mit der Vernunft davonlaufen. Wie oft, wie unendlich oft in meinem Leben bin ich in meinem Bett erwacht und hatte ein neues Gefühl in mir, etwas Schönes, Anderes, unbeschreiblich Neues, Zartes, Liebes, Seltsames, Witziges! Zwischen mir und der ganzen Welt schien eine neue Beziehung aufgegangen zu sein, ein neuer Sinn schien mir geworden, der die Wahrnehmungen meiner alten, gewöhnlichen Sinne ganz neu verband, bestätigte und auch veränderte. Ein Blinder, der an einer Rose riecht und sie betastet, und dem nun plötzlich die Augen aufgehen und zum erstenmal zum Getasteten und Gerochenen auch noch das sichtbare Bild der Blume zu eigen wird, der müßte Ähnliches empfinden. Ich hatte zum Gesicht, zum Tastsinn, zum Gehör, Geruch und Geschmack noch einen weiteren Sinn, ein weiteres Fühl- und Wahrnehmungsvermögen empfunden, oder erfunden. Wenn ich mich dann besann, so fiel mir oft ein Traum oder der Rest eines Traumes ein, den ich in der Nacht gehabt. Ich hatte fliegen können. Ich hatte eine Geliebte gehabt, die ich zu mir her ziehen und rufen konnte ohne einen Ton oder Wink, die zart und gefühlig einfach jeder Regung meiner Seele folgte. Ich hatte Luft trinken können wie Wein, oder in Wasser atmen wie in Luft. Mit dem Gedächtnis an den Traum leuchtete dann immer die neue Empfindung nochmals innig und verlockend auf, schon mit dem wehmütigen Glanz des Abschiednehmenden und Unwiederbringlichen. Dann kamen die Gedanken hinterher, das völlige Erwachen und Bewußtwerden, und der Traum und sein Glück wurde ferner und unwirklicher, und wenn ich aus dem Bette stieg, war fast alles schon wieder weg und verloren und nichts blieb mir zurück als ein leises und banges Gefühl von Verlust und Bestohlensein, gemischt mit einem Gefühl, das ähnlich schmeckte wie schlechtes Gewissen – so, als hätte ich
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