Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
Innere der Welt uns anblickt. Wenn der briefschreibende Jüngling in mir nicht einen unwissenden Sokrates, sondern einen Weisen im Sinn der Professoren und der Feuilletons sah, so hatte ich ihm dazu im großen ganzen doch das Recht gegeben.
Immerhin blieb unerforschlich, was in der Vorstellung des Jünglings von Weisheit Klischee und was erlebt war. Vielleicht war sein alter Weiser lediglich eine Theaterfigur, vielmehr eine Attrappe, vielleicht aber war auch ihm jene Reihe von Assoziationen zum Wort »weise« wohlbekannt, die ich eben durchlaufen hatte. Vielleicht dachte auch er beim Wort »weise« zuerst mit Befremdung und Verlegenheit feststellen zu müssen, daß ja gerade Sokrates von Weisheit nichts an sich haben, von Weisheit nichts wissen wollte.
Die Untersuchung der Worte »alt und weise« hatte mir also wenig Nutzen gebracht. Ich ging nun, um doch irgendwie mit dem Brief fertig zu werden, den umgekehrten Weg und suchte nicht von irgendwelchen einzelnen Worten aus Aufklärung zu gewinnen, sondern vom Inhalt, vom Ganzen des Anliegens, das den jungen Mann zu seinem Brief veranlaßt hatte. Dies Anliegen war eine Frage, eine scheinbar sehr einfache, also scheinbar auch einfach zu beantwortende Frage. Sie lautete: »Hat das Leben einen Sinn, und wäre es nicht besser, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen?« Auf den ersten Blick scheint diese Frage nicht sehr viele Antworten zuzulassen. Ich konnte antworten: Nein, Lieber, das Leben hat keinen Sinn, und es ist in der Tat besser usw. Oder ich konnte sagen: Das Leben, mein Lieber, hat freilich einen Sinn, und der Ausweg mit der Kugel kommt nicht in Frage. Oder aber: Zwar hat das Leben keinen Sinn, aber darum braucht man sich dennoch nicht totzuschießen. Oder aber: Das Leben hat zwar seinen guten Sinn, aber es ist so schwer, dem gerecht zu werden oder auch nur ihn zu erkennen, daß man doch wohl besser tut, sich eine Kugel usw.
Dies etwa, könnte man beim ersten Hinsehen meinen, wären die auf des Knaben Frage möglichen Antworten. Aber kaum probiere ich es weiter mit Möglichkeiten, so sehe ich bald, daß es nicht vier oder acht, sondern hundert und tausend Antworten gibt. Und doch, möchte man schwören, gibt es für diesen Brief und seinen Briefschreiber im Grunde nur eine einzige Antwort, nur eine einzige Tür ins Freie, nur eine einzige Erlösung aus der Hölle seiner Not.
Diese einzige Antwort zu finden, dazu hilft mir keine Weisheit und kein Alter. Die Frage des Briefes stellt mich ganz und gar ins Dunkle, denn jene Weisheiten, über die ich verfüge, und auch jene Weisheiten, über welche noch weit ältere und erfahrenere Seelsorger verfügen, sind zwar für Bücher und Predigten, für Vorträge und Aufsätze vortrefflich zu verwenden, nicht aber für diesen einzelnen, wirklichen Fall, nicht für diesen aufrichtigen Patienten, der zwar den Wert des Alters und der Weisheit sehr überschätzt, dem es aber bittrer Ernst ist und der mir alle Waffen, Schlichen und Kniffe durch die einfachen Worte aus der Hand schlägt: »Ich habe zu Ihnen Vertrauen.«
Wie wird nun dieser Brief mit einer so kindlichen wie ernsten Frage seine Antwort finden?
Aus dem Brief ist mir etwas angeflogen, etwas entgegengeblitzt, was ich mehr mit den Nerven als dem Verstand, mehr mit dem Magen oder Sympathikus als mit der Erfahrung und Weisheit spüre und verarbeite: ein Hauch von Wirklichkeit, ein Blitz aus klaffendem Wolkenriß, ein Anruf von drüben, aus dem Jenseits von Konventionen und Beruhigungen, und es gibt keine Lösung als entweder Sichdrücken und Schweigen, oder aber Gehorsam und Annahme des Anrufs. Vielleicht habe ich noch die Wahl, vielleicht kann ich mir noch sagen: dem armen Knaben kann ich ja doch nicht helfen, ich weiß ja so wenig wie er, vielleicht kann ich den Brief zuunterst unter einen Stoß andrer Briefe legen und so lange halbbewußt für sein Untenbleiben und allmähliches Verschwinden sorgen, bis er vergessen ist. Aber indem ich das denke, weiß ich auch schon: ich werde ihn erst dann vergessen können, wenn er tatsächlich beantwortet, und zwar richtig beantwortet ist. Daß ich das weiß, daß ich davon überzeugt bin, kommt nicht aus Erfahrung und Weisheit, es kommt von der Kraft des Anrufs, von der Begegnung mit der Wirklichkeit. Es kommt also die Kraft, aus der ich meine Antwort schöpfen werde, schon nicht mehr aus mir, aus der Erfahrung, aus der Klugheit, aus der Übung, aus der Humanität, sondern aus der Wirklichkeit selbst, aus dem winzigen
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