Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
Splitterchen Wirklichkeit, das jener Brief mir zugetragen hat. Die Kraft also, die diesen Brief beantworten wird, liegt im Briefe selbst, er selbst wird sich beantworten, der Jüngling selbst wird sich Antwort geben. Wenn er aus mir, dem Stein, dem Alten und Weisen, einen Funken schlägt, so ist es sein Hammer, sein Schlagen, seine Not, seine Kraft allein, die den Funken weckt.
Ich darf nicht verschweigen, daß ich diesen Brief mit dieser selben Frage schon sehr viele Male bekommen, gelesen und beantwortet oder nicht beantwortet habe. Nur ist die Kraft der Not nicht immer die gleiche, es sind nicht nur die starken und reinen Seelen, die zu irgendeiner Stunde solche Fragen stellen, es kommen auch die reichen Jünglinge mit ihren halben Leiden und ihrer halben Hingabe. Mancher schon hat mir geschrieben, ich sei es, in dessen Hand er die Entscheidung lege; ein Ja von mir, und er werde genesen, und ein Nein, so werde er sterben . . . und so kräftig das klang, spürte ich doch den Appell an meine Eitelkeit, an meine eigene Schwäche, und kam zum Urteil: dieser Briefschreiber wird weder an meinem Ja genesen noch an meinem Nein sterben, sondern weiter seine Problematik kultivieren und seine Frage vielleicht noch an manche andere sogenannte Alte und Weise richten, sich an den Antworten ein wenig trösten und ein wenig belustigen, und eine Sammlung von ihnen in einer Mappe anlegen.
Wenn ich diesem heutigen Briefschreiber solches nicht zutraue, wenn ich ihn ernst nehme, sein Vertrauen erwidere und den Wunsch habe ihm zu helfen, so geschieht dies alles nicht durch mich, sondern durch ihn, es ist seine Kraft, die mir die Hand führt, seine Wirklichkeit, die meine konventionelle Altersweisheit durchbricht, seine Reinheit, die auch mich zur Lauterkeit zwingt, nicht irgendeiner Tugend, einer Nächstenliebe, einer Humanität wegen, sondern dem Leben und der Wirklichkeit zuliebe, so wie man, wenn man ausgeatmet hat, trotz allen Vorsätzen oder Weltanschauungen nach einer kleinen Weile notwendig wieder einatmen muß. Wir tun es nicht, es geschieht mit uns.
Und wenn ich mich nun, von der Not gepackt, vom Wetterleuchten des wahren Lebens angestrahlt, von der schwer erträglichen Dünne seiner Luft zu raschem Tun zwingen lasse, wenn ich den Brief nochmals zu mir sprechen oder schreien lasse, dann habe ich diesem Brief keine Gedanken und Zweifel mehr entgegenzusetzen, ihn keiner Untersuchung und Diagnose mehr zu unterziehen, sondern ich habe seinem Ruf zu folgen und habe nicht meinen Rat und mein Wissen herzugeben, sondern das einzige, was helfen kann, nämlich die Antwort, die der Jüngling haben will, und die er nur aus einem andern Munde zu hören braucht, um zu spüren, daß es seine eigene Antwort, seine eigene Notwendigkeit ist, die er da beschworen hat.
Es braucht viel, daß ein Brief, eine Frage eines Unbekannten den Empfänger wirklich erreicht, denn der Briefschreiber kann sich ja, trotz aller echten und dringenden Not, auch nur in konventionellen Zeichen ausdrücken. Er fragt: »Hat das Leben einen Sinn?«, und das klingt vag und töricht wie ein Knabenweltschmerz. Aber er meint ja nicht »das« Leben, es ist ihm ja nicht um Philosophien, Dogmatiken oder Menschenrechte zu tun, sondern er meint einzig und allein sein Leben, und er will von meiner angeblichen Weisheit keineswegs einen Lehrsatz hören oder eine Anweisung in der Kunst, dem Leben einen Sinn zu geben; nein, er will, daß seine wirkliche Not von einem wirklichen Menschen gesehen, einen Augenblick geteilt, und dadurch für diesmal überwunden werde. Und wenn ich ihm diese Hilfe gewähre, so bin nicht ich es, der geholfen hat, sondern es ist die Wirklichkeit seiner Not, die mich Alten und Weisen für eine Stunde des Alters und der Weisheit entkleidet und mit einer glühend eisigen Welle von Wirklichkeit übergossen hat.
Genug von diesem Brief. Was den Dichter nach dem Lesen von Briefen seiner Leser oft beschäftigt, sind Fragen wie diese: Was habe ich beim Schreiben meiner Bücher, abgesehen vom bloßen Vergnügen am Schreiben selbst, eigentlich gedacht, gewollt, gemeint, erstrebt? Und dann Fragen wie diese: Wieviel von dem, was du mit deiner Arbeit gemeint und angestrebt hast, wird von den Lesern gebilligt oder abgelehnt, ja: wieviel davon wird vom Leser überhaupt bemerkt und zur Kenntnis genommen? Und die Frage: Hat das, was ein Dichter mit seinen Dichtungen meint und will, hat sein Wollen, seine Ethik, seine Selbstkritik, seine Moral überhaupt irgend etwas zu
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