Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
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Man ist zufriedener, wenn man für andere, als wenn man für sich allein lebt. Nur sollten die Alten nicht gar so sehr ein Heldentum daraus machen, was es nicht ist. Auch werden aus den eifrigsten Jungen die besten Alten und nicht aus denen, die schon auf Schulen wie Großväter tun.
Aus »Gertrud«, 1908/09
Spätherbst
J etzt steht der ganze Garten leer,
Das Obst ist eingetan,
Spätrosen scheinen müde her,
Die sonst so farbig sahn.
Und bald, und bald wird auch bei mir
Der Herbst und Winter stehn:
So viele Tage blühten dir,
Nun laß die Ernte sehn!
Dann steh ich arm und weiß nicht mehr,
Wofür mein Herz geglüht,
Kaum daß darin noch ungefähr
Ein spätes Röslein blüht.
Das reiß ich ab und trags am Hut,
Der Weg ist nimmer weit,
Und nehme seine kleine Glut
Mit in die Dunkelheit.
30. September 1913
Albumblatt
M an soll das Leben ernst nehmen können
Mit allem seinem Staub und Rauch,
Mit allem seinem tollen Rennen –
Aber lachen können muß man auch!
Man soll in jeden Abgrund sehen,
Bloß der Feigling geht daran vorbei;
Aber man soll auch zu lachen verstehen,
Denn erst das Lachenkönnen macht frei.
1920
[So manches]
S o manches muß der Mensch sich sagen,
Was sich der Mensch nicht gerne sagt,
Es wird verschwiegen, unterschlagen,
Vertuscht, verschoben und vertagt.
Was er durchaus nicht wissen wollte,
Ist’s, was der Mensch sich sagen sollte.
3. Juni 1959
V iele sagen, sie »lieben die Natur«. Das heißt, sie sind nicht abgeneigt, je und je ihre dargebotenen Reize sich gefallen zu lassen. Sie gehen hinaus und freuen sich über die Schönheit der Erde, zertreten die Wiesen und reißen schließlich eine Menge Blumen und Zweige ab, um sie bald wieder wegzuwerfen oder daheim verwelken zu sehen. So lieben sie die Natur. Sie erinnern sich dieser Liebe am Sonntag, wenn schönes Wetter ist, und sind dann gerührt über ihr gutes Herz. Sie hätten es ja nicht nötig, denn »der Mensch ist die Krone der Natur«. Ach ja, die Krone!
Aus »Peter Camenzind«, 1903
I ch habe einen Glauben, ein zum Instinkt gewordenes Wissen oder Ahnen um einen Sinn des Lebens. Ich kann aus der Weltgeschichte nicht schließen, daß der Mensch gut, edel, friedliebend und selbstlos sei, aber daß unter den ihm gegebenen Möglichkeiten auch diese edle und schöne Möglichkeit, das Streben nach Güte, Frieden und Schönheit, vorhanden sei und unter glücklichen Umständen zur Blüte gelangen könne, das glaube und weiß ich gewiß, und wenn dieser Glaube einer Bestätigung bedürfte, so fände er in der Weltgeschichte neben den Eroberern, Diktatoren, Kriegshelden und Bombenherstellern auch Erscheinungen wie Buddha, Sokrates, Jesus, die heiligen Schriften der Inder, Juden, Chinesen und alle die wunderbaren Werke friedlichen Menschengeistes in der Welt der Kunst. Ein Prophetenkopf aus dem Figurengewimmel am Portal eines Domes, ein paar Takte Musik von Monteverdi, Bach, Beethoven, ein Stückchen Leinwand von Rogier, von Guardi oder Renoir bemalt, genügen, um dem ganzen Macht- und Kriegstheater der brutalen Weltgeschichte zu widersprechen und eine andere, beseelte, in sich beglückte Welt darzutun. Und überdies haben die Werke der Kunst weit sicherern und längeren Bestand als die Werke der Gewalt, sie überdauern sie um Jahrtausende.
Wenn wir, die wir an die Gewalt nicht glauben und uns ihren Ansprüchen möglichst zu entziehen suchen, dennoch zugeben müssen, daß es keinen Fortschritt gibt, daß die Welt nach wie vor von den Strebern, den Machtgierigen und Gewalttätern regiert wird, so kann man das, wenn man die schönen Worte liebt, tragisch nennen. Wir leben umgeben von Apparaten der Macht und Gewalt, oft knirschend vor Empörung über sie, oft der tödlichen Verzweiflung nah (Sie haben das in Stalingrad erlebt), wir dürsten nach Frieden, nach Schönheit, nach Freiheit für die Flüge unsrer Seele, und hätten oft genug Lust, den Herstellern der Atombomben das vorzeitige Losgehen ihrer Teufelsapparate zu wünschen – und wir lassen diese Empörung und diese Wünsche doch nicht zur Blüte kommen, wir fühlen, daß es uns verboten ist, der Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Unsre Empörung und jene schlimmen Wünsche belehren uns darüber, daß die Scheidung der Menschenwelt in Gut und Böse keineswegs eine reinliche ist, daß das Böse nicht nur in den Strebern und Gewaltmenschen lebt, sondern auch in uns, die wir uns doch friedliebend und wohlmeinend wissen. Kein Zweifel, daß unsre Empörung »gerecht«
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