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Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Titel: Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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weidete. Auch diese letzte Bevölkerung starb allmählich in Krankheiten und Blödsinn aus, die ganze Landschaft war seit der Versumpfung von Fieber heimgesucht und der Verlassenheit anheimgefallen.
    Die Reste des alten Rathauses, das einst der Stolz seiner Zeit gewesen war, standen noch immer sehr hoch und mächtig, in Liedern aller Sprachen besungen und ein Herd unzähliger Sagen der Nachbarvölker, deren Städte auch längst verwahrlost waren und deren Kultur entartete. In Kinder-Spukgeschichten und melancholischen Hirtenliedern tauchten entstellt und verzerrt noch die Namen der Stadt und der gewesenen Pracht gespenstisch auf, und Gelehrte ferner Völker, deren Zeit jetzt blühte, kamen zuweilen auf gefährlichen Forschungsreisen in die Trümmerstätte, über deren Geheimnisse die Schulknaben entfernter Länder sich begierig unterhielten. Es sollten Tore von reinem Gold und Grabmäler voll von Edelsteinen dort sein, und die wilden Nomadenstämme der Gegend sollten aus alten fabelhaften Zeiten her verschollene Reste einer tausendjährigen Zauberkunst bewahren.
    Der Wald aber stieg weiter von den Bergen her in die Ebene, Seen und Flüsse entstanden und vergingen, und der Wald rückte vor und ergriff und verhüllte langsam das ganze Land, die Reste der alten Straßenmauern, der Paläste, Tempel, Museen, und Fuchs und Marder, Wolf und Bär bevölkerten die Einöde.
    Über einem der gestürzten Paläste, von dem kein Stein mehr am Tage lag, stand eine junge Kiefer, die war vor einem Jahre noch der vorderste Bote und Vorläufer des heranwachsenden Waldes gewesen. Nun aber schaute auch sie schon wieder weit auf jungen Wuchs hinaus.
    »Es geht vorwärts!« rief ein Specht, der am Stamme hämmerte, und sah den wachsenden Wald und den herrlichen, grünenden Fortschritt auf Erden zufrieden
     an.
    1910
Gang im Spätherbst
    H erbstregen hat im grauen Wald gewühlt,
    Im Morgenwind aufschauert kalt das Tal,
    Hart fallen Früchte vom Kastanienbaum
    Und bersten auf und lachen feucht und braun.
    In meinem Leben hat der Herbst gewühlt,
    Zerfetzte Blätter zerrt der Wind davon
    Und rüttelt Ast um Ast – wo ist die Frucht?
    Ich blühte Liebe, und die Frucht war Leid.
    Ich blühte Glaube, und die Frucht war Haß.
    An meinen dürren Ästen reißt der Wind,
    Ich lach ihn aus, noch halt ich Stürmen stand.
    Was ist mir Frucht? Was ist mir Ziel! – Ich blühte,
    Und Blühen war mein Ziel. Nun welk ich,
    Und Welken ist mein Ziel, nichts andres,
    Kurz sind die Ziele, die das Herz sich steckt.
    Gott lebt in mir, Gott stirbt in mir, Gott leidet
    In meiner Brust, das ist mir Ziel genug.
    Weg oder Irrweg, Blüte oder Frucht,
    Ist alles eins, sind alles Namen nur.
    Im Morgenwind aufschauert kalt das Tal,
    Hart fallen Früchte vom Kastanienbaum
    Und lachen hart und hell. Ich lache mit.
    6. November 1919
Im Nebel
    S eltsam, im Nebel zu wandern!
    Einsam ist jeder Busch und Stein,
    Kein Baum sieht den andern,
    Jeder ist allein.
    Voll von Freunden war mir die Welt,
    Als noch mein Leben licht war;
    Nun, da der Nebel fällt,
    Ist keiner mehr sichtbar.
    Wahrlich, keiner ist weise,
    Der nicht das Dunkel kennt,
    Das unentrinnbar und leise
    Von allen ihn trennt.
    Seltsam, im Nebel zu wandern!
    Leben ist Einsamsein.
    Kein Mensch kennt den andern,
    Jeder ist allein.
    November 1905
    I hr Brief ist gekommen, und so sehr ich die Not spüre, aus der er kommt, beneide ich Sie doch ein wenig um die Menge von Hingabe, Zeit, Leidenschaft, die Sie sich selbst und Ihrem Privatleben zuwenden können. Auch mir würde das sehr zusagen, aber die Welt will das nicht, und sie ist stärker als ich, sie zwingt mich Tag für Tag, mich von den Nöten und Anliegen andrer verbrauchen zu lassen, von der Hungersnot bis zum Künstlerpech und dem Liebeskummer. Und das wäre auch für Sie eine ganz gute Kur, denn Sie haben offenbar für Ihren Konflikt keine rechte Kontrolle, und neigen dazu, das, was nur bedauerlich ist, schon für tragisch zu halten. Es ist aber nicht tragisch. Daß ein Mensch den, den er liebt, nicht bekommen und für sich allein haben kann, ist das häufigste aller Schicksale, und damit fertig zu werden heißt: den Überschuß an Leidenschaft und Hingabe, den man für seine Liebe hat, diesem Objekt entziehen und sie anderen Zielen zuzuwenden: der Arbeit, der Mitarbeit im Sozialen, der Kunst. Dies ist der Weg, auf dem Ihre Liebe fruchtbar und sinnvoll werden kann. Das Feuer, an dem Sie jetzt nur das eigene Herz verbrennen lassen, ist nicht nur Ihr Eigentum, es

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