Verliebt, verlobt, verflucht
zerzaust.
»Natalie, Natalie«, schluchzt sie und schleppt sich zitternd in den Raum.
Natalie lässt sofort Artus' Hand fallen und läuft ihr entgegen, um sie in ihren Armen aufzufangen.
»Was ist passiert, Gingin?«
»Er hat mich eiskalt abserviert, Natalie! Er hat mir einfach einen Brief in die Hand gedrückt und ist wieder gegangen!«
Sie bricht schluchzend zusammen. Natalie hievt sie auf den Ohrensessel und streichelt ihr verweintes Gesicht.
Artus hüstelt vernehmlich. Natalie wendet sich zu ihm um. Er versucht, seine Wut zu verbergen, steckt missgelaunt die rote Samtschatulle wieder in seine Hosentasche und verkündet steif: »Es ist wohl besser, ich gehe wieder!«
»Nein, Artus, warte, du wolltest mir doch eine Frage stellen!«, ruft Natalie aus und läuft zu ihm hinüber.
Er lächelt gequält, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und flüstert ihr ins Ohr: »Gute Nacht, meine Liebe. Ich werde dich morgen wieder aufsuchen.«
»Nein, Artus, bleib hier«, bettelt Natalie, doch er beginnt bereits, sich in Rauch aufzulösen.
Sie geht enttäuscht zum Fenster, öffnet es, und aus dem Rauch fliegt der Rabe in die tiefe Nacht hinaus. Traurig sieht sie ihm nach, wie er verärgert krächzend zwischen den Dächern verschwindet.
1.Kapitel
Der Brief
Sechshundert Jahre später, Peretrua im tausendsten Jahr nach der Gründung
In einem gemütlichen Ohrensessel vor dem prasselnden Feuer im Hauskamin versunken, las Natalie ein dickes Buch. Nebenbei spielte sie mit ihrer mahagonibraunen Lockenpracht, und wenn es besonders spannend wurde, kringelte sie nervös ihren Zeigefinger in eine Haarsträhne. Außer ihr befand sich niemand im Salon. Der Boden war mit blauem Marmor ausgelegt und der ganze Raum mit schweren Ahornmöbeln ausgestattet, in denen Peretruas Wappen golden eingefasst war. Vor dem ausladenden Marmorkamin befand sich eine große Sitzecke, deren bequemsten Sessel sich Natalie zum Schmökern ausgesucht hatte. Im Salon befanden sich außerdem noch eine Kochecke sowie das Esszimmer.
Die Geschichte hatte Natalie so sehr gefangen, dass sie nicht einmal das Pfeifen des Wasserkessels bemerkte, im Gegensatz zu einem kleinen Minitroll, der nun eifrig watschelnd den Salon betrat. Er holte sich einen Hocker und bereitete eine Kanne Tee zu. Seine grüngelbe Haut war mit Warzen und Beulenübersät, der Kopf glich dem eines Schweines und die Ohren denen eines kleinen Ferkels.
»Tee gemacht«, rief er vergnügt und watschelte Natalie entgegen. Er stellte ein Tablett mit Tee und Keksen auf den Tisch neben ihren Sessel.
»Oh, das ist aber lieb, Schweinsnase!«, lobte Natalie ihren Minitroll und kraulte ihm den dicken Schweinskopf. Er grunzte zufrieden.
»Wünsche?«
»Wie nett, dass du fragst. Du könntest mir noch meine giftgrüne Lieblingswolldecke bringen, Schweinsnase. Und den Kamin noch etwas befeuern, es ist so kalt.« Natalie zog fröstelnd ihre Knie bis zu ihrer Brust. Sie hätte sich wärmer anziehen sollen. Ihre blaue Lieblingsbluse und ihr blauer Rock dazu waren einfach zu kalt für diese Jahreszeit. Der Herbst war schließlich schon angebrochen und abends wehte inzwischen ein kalter Wind durch die Gassen. Doch da Natalie ein Sommerkind war, trotzte sie bislang verbissen dem Jahreszeitenwechsel.
Schweinsnase tat wie ihm geheißen und stocherte mit einem Schürhaken im Feuer, damit dessen Flammen wieder einen prasselnden Tanz aufführten.
Natalie gähnte. Eigentlich sollte sie ja Geschichte lernen und nicht in ihrer Lieblingskrimireihe schmökern. Aber Geschichte war so langweilig! Wen interessierte schon, was vor Hunderten von Jahren geschehen war?
Natalie nahm sich zwei Kekse, Krümel fielen in ihren Schoß.
Normalerweise saß sie am Sonntag nicht allein zu Hause, sondern machte mit ihren Eltern einen Brettspielabend. Doch diese waren heute Abend zum Essen ausgegangen, um ihren sechzehnten Hochzeitstag zu feiern. Eigentlich wollte Natalie daher mit ihrer besten Freundin Gingin, einer Halbelbin, ins Theater gehen, doch ihre Freundin war sehr viel strebsamer als sie und büffelte den ganzen Abend für den bevorstehenden Geschichtstest.
Natalie starrte nachdenklich in den Kamin, während sie den dritten Keks verputzte. Wenn sie einen Freund hätte, könnte sie mit ihm zusammen im Sessel kuscheln. Er würde ihr etwas Romantisches ins Ohr flüstern und sie mit den Keksen füttern. Stattdessen verbrachte sie den Sonntagabend mit dem Hausminitroll, einem Buch und ihrer Kuscheldecke. Diese wurde gerade von
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