Verliere nicht dein Gesicht
lenkt sie ab."
Tally nickte und hielt Ausschau nach David. Er kam auf sie zugerannt. Sein Gesicht war zu einer grimmigen Maske verzerrt, die Leimtube in seiner Hand zerdrückt und leer. "David", setzte sie an.
"Los!", schrie Maddy und schob Shay hinter Tally auf das Brett.
"Äh, keine Auffangarmbänder?", fragte Shay und schwankte hin und her. "Das ist heute nicht meine erste Party, weißt du."
"Weiß ich. Halt dich an mir fest", sagte Tally und jagte vom Dach.
Die beiden gerieten für einen Moment ins Schwanken und hätten fast das Gleichgewicht verloren. Aber Tally fasste sich wieder und merkte, dass Shay ihr ganz fest den Arm um die Taille schlang.
"He, Tally! Langsamer!"
"Halt dich einfach fest!"
Tally beugte sich in eine Kurve und die Trägheit des Brettes ließ sie verzweifeln. Nicht nur, dass es zwei Personen tragen musste, Shays unsichere Haltung brachte alles durcheinander.
"Hast du vergessen, wie man fliegt?"
"Natürlich nicht", sagte Shay. "Bin nur ein bisschen eingerostet, Scheelauge. Und hab heute Abend ein bisschen zu viel getrunken."
"Fall bitte nicht runter. Das würde wehtun!"
"He, ich hab nicht darum gebeten, gerettet zu werden."
"Nein, das wohl nicht." Tally schaute nach unten, als sie über Crumblyville jagten, dann überquerten sie den grünen Gürtel und steuerten in gerader Linie den Fluss an. Wenn Shay bei diesem Tempo zu Boden fiele, würde sie nicht verletzt werden. Sondern sterben.
Wie Davids Vater. Tally hätte gern gewusst, wie er ums Leben gekommen war. Hatte er versucht den Specials zu entkommen, wie der Boss? Oder hatte Dr. Cable ihm etwas angetan? Ein Gedanke ließ ihr keine Ruhe: Was immer passiert war, es war ihre Schuld.
"Shay, wenn du runterfällst, dann nimm mich mit."
"Was?"
"Halt dich einfach an mir fest und lass nicht los, egal, was passiert. Ich hab eine Bungeejacke und Armbänder. Wir würden abfedern." Vermutlich. Falls die Jacke sie nicht in eine Richtung zog und die Armbänder in die andere. Oder falls das Gewicht von Tally und Shay zusammen nicht zu viel für die Hubmechanismen war.
"Dann gib mir die Armbänder, du Dussel."
Tally schüttelte den Kopf. "Keine Zeit zum Anhalten."
"Wohl nicht. Unsere Freunde von den Specials sind garantiert
stocksauer." Shay presste sich dichter an Tally.
Sie hatten den Fluss fast erreicht und nichts wies daraufhin, dass sie
verfolgt wurden. Der Nanotech-Leim hatte offenbar einen ziemlichen
Kampf geliefert. Aber die Specials hatten ja noch andere Hubwagen - zumindest die drei, die früher am Abend in die Stadt geflogen waren -, und die regulären Wächter hatten auch welche.
Tally fragte sich, ob die Specials die Wächter um Hilfe bitten oder ob sie den ganzen Zwischenfall geheim halten würden. Was würden die Wächter zu dem unterirdischen Gefängnis sagen? Wusste die Stadtregierung, was die Specials Smoke oder Az angetan hatten?
Unter ihr strömte Wasser dahin und Tally ließ in einer Kurve das orangefarbene Stoffstück nach unten fallen. Es flatterte davon, auf den Fluss zu. Die Strömung würde es zurück in die Stadt tragen, also entgegen ihrer Fluchtroute.
Tally und David hatten sich an einer Stelle oben am Fluss verabredet, weit hinter den Ruinen, wo David Jahre zuvor eine Höhle entdeckt hatte. Da deren Eingang von einem Wasserfall versteckt wurde, würden sie dort mit Hitzesensoren nicht zu finden sein. Und von dort aus könnten sie zurück zu den Ruinen gehen und ihre restliche Ausrüstung holen und dann ... Smoke wieder aufbauen? Zu siebt? Mit Shay als Quoten-Pretty? Tally ging auf, dass sie über diese Nacht hinaus keine Pläne gemacht
hatten. Bisher war die Zukunft ihnen zu unwirklich erschienen.
Natürlich konnten sie noch immer gefangen werden.
"Glaubst du, es stimmt?", schrie Shay. "Was Maddy gesagt hat?"
Tally wagte es, sich zu Shay umzublicken. Deren hübsches Gesicht sah besorgt aus.
"Ich meine, Az ging’s doch gut, als ich vor ein paar Tagen bei ihm war", sagte Shay. "Ich dachte, sie würden ihn hübsch machen. Und ihn nicht umbringen."
"Ich weiß nicht." Maddy würde doch keine solche Lüge erzählen. Aber vielleicht hatte sie sich ja geirrt.
Tally beugte sich vor, jagte im Tiefflug über den Fluss und versuchte das kalte Gefühl in ihrem Magen loszuwerden. Gischt traf ihre Gesichter, als sie das Wildwasser erreichten. Shay flog jetzt wieder richtig, sie bewegte sich im Rhythmus der
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