Verliere nicht dein Gesicht
Nach den ersten Tagen sprach sie nicht einmal mehr von einer Rückkehr in die Stadt. Vielleicht hatte der Gehirnschaden sie umgänglich werden lassen, vielleicht lag es daran, dass sie nicht lange in New Pretty Town gelebt hatte. Sie erinnerte sich an alle hier als ihre Freunde. Tally fragte sich manchmal, ob Shay es im Stillen genoss, das einzige hübsche Gesicht in dieser kleinen Gemeinschaft zu haben. Auf jeden Fall arbeitete sie hier nicht mehr, als sie es in der Stadt getan hätte: Ryde und Astrix gehorchten jedem ihrer Befehle.
David half seiner Mutter, suchte in den Ruinen nach nützlichen Dingen und lehrte alle Uglies, die das interessierte, Überlebenstricks aus der Wildnis. Aber in den zwei Wochen, die seit dem Tod seines Vaters vergangen waren, ertappte Tally sich immer wieder dabei, dass sie sich nach den Tagen sehnte, an denen sie nur zu zweit gewesen waren.
Zwanzig Tage nach der Rettungsaktion verkündete Maddy, dass sie ein Heilmittel gefunden habe.
***
"Shay, ich möchte dir das ganz sorgfältig erklären."
"Sicher doch, Maddy."
"Als du operiert worden bist, haben sie etwas mit deinem Gehirn gemacht."
Shay lächelte. "Ja, richtig." Sie schaute vielsagend zu Tally hinüber. "Das erzählt Tally mir auch immer wieder. Aber ihr habt doch keine Ahnung."
Maddy faltete die Hände. "Wie meinst du das?"
"Ich finde es gut, so auszusehen", erklärte Shay. "Ich fühle mich in diesem Körper glücklicher. Du willst mir was über Gehirnschäden erzählen? Na, dann seht euch doch mal an, wie ihr hier in den Ruinen herumlauft und Einsatzkommando spielt. Ihr habt so viele Pläne und rebellische Ideen, ihr seid verrückt vor Angst und Verfolgungswahn und sogar Eifersucht." Ihre Augen jagten zwischen Tally und Maddy hin und her. "Das kommt eben vom Hässlichsein."
"Und wie fühlst du dich, Shay?", fragte Maddy gelassen.
"Prickelnd. Es ist nett, nicht von Hormonen gehetzt zu werden. Aber natürlich ist es irgendwie doof, hier draußen zu sein und nicht in der Stadt."
"Niemand hält dich fest, Shay. Warum bist du also noch hier?" Shay zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht... ich nehme an ich mach mir Sorgen um euch. Es ist gefährlich hier draußen und sich mit den Specials anzulegen ist keine gute Idee. Das müsstest du doch inzwischen wissen, Maddy."
Tally schnappte nach Luft, aber Maddys Gesicht blieb unverändert. "Und du wirst uns vor ihnen beschützen?", fragte sie ruhig.
Shay zuckte mit den Schultern. "Ich hab nur ein schlechtes Gewissen wegen Tally. Wenn ich ihr nicht von Smoke erzählt hätte, wäre sie jetzt hübsch, statt in diesem Loch zu sitzen. Und ich stelle mir vor, irgendwann wird sie beschließen, erwachsen zu werden. Und dann gehen wir zusammen zurück."
"Du scheinst also nicht selber entscheiden zu wollen."
"Was denn entscheiden?" Shay verdrehte die Augen und schaute Tally an, wie um sich bestätigen zu lassen, wie langweilig dieses Gespräch doch sei. Die beiden hatten dieses Thema schon etliche Male durchgekaut, bis Tally endlich begriffen hatte, dass es unmöglich war, Shay davon zu überzeugen, dass ihre Persönlichkeit sich verändert hatte. Für Shay war ihre neue Einstellung einfach das Ergebnis davon, dass sie erwachsen geworden war, sich weiterentwickelt und die überhitzten Gefühle der Uglies hinter sich gelassen hatte.
"Du warst nicht immer so, Shay", sagte David.
"Nein, früher war ich hässlich."
Maddy lächelte sanft. "Diese Pillen werden dein Aussehen nicht verändern. Sie beeinflussen nur dein Gehirn und heben das wieder auf, was Dr. Cable damit gemacht hat. Und dann kannst du selber entscheiden, wie du aussehen möchtest."
"Entscheiden? Nachdem du an meinem Gehirn herumgepfuscht hast?"
"Shay!", sagte Tally und vergaß ihr Versprechen, den Mund zu halten. "Nicht wir sind das, die an deinem Gehirn herumpfuschen."
"Tally", mahnte David leise.
"Stimmt, wer hier verrückt ist, bin ich." Shays Stimme klang jetzt so wie bei ihrer täglichen Jammerrunde. "Ihr doch nicht, bloß weil ihr in einer Ruine am Rand einer toten Stadt lebt und euch langsam in Freaks verwandelt, obwohl ihr schön sein könntet. Ja, ich bin wirklich verrückt ... weil ich versuche euch zu helfen."
Tally lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, Shays Worte hatten sie zum Schweigen gebracht. Bei diesem Thema geriet die Wirklichkeit immer leicht ins Schwanken, als ob Tally und die anderen Smokies wirklich
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