Verlockende Angst
Stimme hinter mir.
Mit jeder Faser meines Körpers erkannte ich diese Stimme und reagierte darauf. Da spielte es keine Rolle, dass ich mich am Abend zuvor für Seth entschieden hatte. Hatte ich mich wirklich entschieden? Mein Verstand befahl meinem Körper, mich nicht umzudrehen, aber er achtete nicht darauf.
Jeder Zoll ein Reinblut. Eine Locke von Aidens ansonsten gezähmtem dunklem Haar fiel nach vorn und streifte dichte rußschwarze Wimpern. In seinem weißen Outfit im Mafiastil kam er mir noch unerreichbarer vor.
Marcus räusperte sich.
Ich lief knallrot an und drehte mich zu Marcus um. » Ich weiß. Nur die Fragen beantworten, bla, bla. Hab’s kapiert. «
Marcus starrte mich durchdringend an. » Hoffentlich. «
Welches Versprechen sollte ich eigentlich noch abgeben, dass ich nicht vom Stuhl aufspringen und alle durch die Luft schleudern würde?
Marcus sah auf die Uhr. » Wir müssen hinein. Die Gardisten rufen dich, wenn der Rat so weit ist, Alexandria. «
» Dann muss ich draußen warten? « , fragte ich.
Er nickte und verschwand, während Aiden und ich mit den schweigenden Gardisten zurückblieben. Ihn wortlos stehen zu lassen, kam nicht infrage. » Und… wie geht’s dir so? «
Aiden starrte einen Punkt irgendwo über meinem Kopf an. » Gut. Und dir? «
» Gut. «
Er nickte und warf einen Blick zur Tür.
Das alles stürzte mich in schmerzliche Verlegenheit. » Du kannst ruhig hineingehen und brauchst nicht hier draußen zu warten. «
Endlich sah er mich an. » Ja, ich muss wohl hinein. «
Ich nickte und biss mir von innen in die Wange. » Ich weiß. «
Aiden näherte sich der Tür, doch dann hielt er inne. Sekunden vergingen, bevor er sich wieder zu mir umwandte. » Du schaffst das, Alex. Ich weiß, dass du es schaffst. «
Sprachlos stand ich da, während er mich aufmerksam musterte. Ich konnte mich nicht erinnern, ob ich mich an diesem Tag geschminkt hatte. Vielleicht hatte ich ja etwas Lipgloss aufgelegt. Mein Haar war ordentlich frisiert, umspielte meine Wangen und verdeckte meinen Hals. Ich berührte meine Lippen und war froh, dass sie sich nach Lipgloss anfühlten.
Sein Blick verfolgte meine Bewegungen, dann riss er sich los und fuhr sich mit einer Hand über den Kopf. Er stieß einen zittrigen Laut aus, und als er sprach, klang seine Stimme so leise, dass ich ihn kaum verstand. » Ich glaube… ich werde mich mein Leben lang daran erinnern, wie du gestern Abend ausgesehen hast. Götter, du warst so schön! «
Möglich, dass ich kurz das Bewusstsein verlor.
Sehr viel später erst merkte ich, dass er hinter den schweren Türen des Ratssaals verschwunden war. Vor Verwirrung wurde mir schwindelig. So war er– erst heiß, dann kalt, einmal freundlich, dann wieder distanziert. Ich begriff es einfach nicht. Warum sagte er mir so etwas… um dann davonzulaufen? Wie an dem Tag, als er gesagt hatte, Seth hätte den Meister töten sollen, weil er mich angerührt hatte. Warum diese Geständnisse?
Ich lehnte mich an die Wand und stieß einen tiefen, müden Seufzer aus. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um mich zwanghaft mit Aidens durchgeknallten Stimmungsschwankungen zu beschäftigen. Ich musste mich konzentrieren…
Die Tür links von mir wurde geöffnet und ein Ratsgardist stand da. » Man verlangt nach Ihnen, Miss Andros. «
Also, das ging ja schneller, als ich erwartet hatte! Ich stieß mich von der Wand ab und folgte dem Gardisten in den Ratssaal. Er sah anders aus als in meiner Erinnerung. Zugegeben, bisher hatte ich ihn nur von der obersten Galerie aus gesehen, wo ich für die Reinblüter unten unsichtbar gewesen war. Die geschwungenen Bankreihen, die den Boden des Colosseums einnahmen, waren mit Zierleisten aus Titan geschmückt. Die in die Bodenplatten eingravierten Symbole waren künstlerisch gestaltet– dagegen wirkten die Zeichen auf unseren Wegen zu Hause wie Gekritzel. Hier musste eben alles größer und besser sein.
Als ich durch den Mittelgang schritt, wandten die Anwesenden sich auf ihren Plätzen um. Offen neugierige Blicke richteten sich auf mich. Andere wirkten weniger neugierig als ausgesprochen feindselig und misstrauisch.
Ich nahm mich zusammen und konzentrierte mich lieber auf das erhöhte Podium vor mir statt auf meinen Magen, der sich zu verknoten drohte. Die Minister saßen auf ihren Plätzen wie Götter, die große und furchtbare göttliche Gerechtigkeit zu üben gedachten. Sie beobachteten mich, während ich näher kam, und nahmen schon alles an mir
Weitere Kostenlose Bücher