Verlockende Angst
auseinander, bevor ich sie überhaupt erreichte. Nur einer von ihnen schien sich nicht zu beunruhigen. Lucian, der in prächtige weiße Gewänder gekleidet war, saß auf einem der kleineren Thronsessel und starrte Telly an. Vielleicht betrachtete er auch Tellys Thron und stellte sich vor, selbst dort zu sitzen. Auf jenem Platz, der in unserer Welt als Symbol absoluter Macht galt…
Vor den acht, genau zwischen den beiden Thronen, auf denen der oberste Minister Telly und Diana Elders saßen, stand ein einfacher Stuhl, der dem Publikum zugewandt war. Ich wusste nicht, ob ich warten sollte, bis man mich zum Platznehmen aufforderte, oder ob ich mich einfach setzen sollte.
Ich ließ mich auf dem Stuhl nieder.
Ein missbilligendes Murmeln durchlief die Menge der Reinblüter. Anscheinend hatte ich mich falsch verhalten. Das fing ja toll an. Ich spähte zur Galerie hinauf und erhaschte gerade noch einen Schatten, der von der Brüstung zurückwich.
Seth.
Ich spürte, wie Telly hinter mir aufstand, wagte aber nicht, mich umzusehen. Irgendwie war mir klar, dass ich damit ein weiteres tadelndes Gemurmel hervorgerufen hätte. Lässig legte ich die Hände auf die Armlehnen und blickte über die Menge hinweg, die vor mir saß. Sogleich entdeckte ich Aiden. Er beugte sich auf seinem Platz vor und beobachtete die Minister hinter mir.
» Alexandria Andros. « Der oberste Minister Telly glitt um meinen Stuhl herum. Neben mir blieb er stehen und neigte den Kopf. Er vollführte eine elegante Handbewegung in Richtung Publikum und lächelte strahlend, wodurch er aussah wie ein leicht dümmlicher Posaunenengel, der seine besten Zeiten hinter sich hatte. » Wir müssen Sie bitten, dem Rat und den Göttern einen Eid zu leisten und zu schwören, jede Frage aufrichtig zu beantworten. Haben Sie verstanden? «
Ich nickte und sah den obersten Minister an. Kam es mir nur so vor, oder breiteten sich die grauen Haare an seinen Schläfen aus?
» Ein Verstoß gegen diesen Eid wäre Verrat nicht nur gegenüber dem Rat, sondern auch den Göttern gegenüber. Das würde gleichzeitig Ihren Verweis vom Covenant bedeuten. Ich nehme an, das haben Sie ebenfalls verstanden. «
» Ja. «
» Schwören Sie also, Alexandria Andros, alle Informationen offenzulegen, die die Ereignisse von Gatlinburg betreffen? «
Ich blickte in Tellys helle Augen. » Ja. «
Sein Lächeln wurde kühl. » Gut. Wie finden Sie Ihre Unterbringung an unserem Covenant, Alexandria? Gefällt sie Ihnen? « Telly schnalzte leise mit der Zunge. » Sehen Sie bitte nur mich an, Alexandria! «
Die Armlehnen meines Stuhls knirschten, als ich sie krampfhaft umklammerte. » Alles passt ganz wunderbar. «
Er hob die dunklen Augenbrauen und glitt auf die andere Seite meines Stuhls. » Das freut mich zu hören. Warum hat Ihre Mutter vor drei Jahren den Covenant verlassen, Alexandria? «
Ich blinzelte. » Was hat das mit den Vorkommnissen in Gatlinburg zu tun? «
» Ich habe Ihnen eine Frage gestellt… und nein, blicken Sie nicht ins Publikum! Warum hat Ihre Mutter vor drei Jahren den Covenant verlassen? «
» Ich… ich weiß es nicht. « Dieses Mal sah ich Telly an. » Sie hat es mir nie erzählt. «
Telly sah ins Publikum und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. » Sie wissen es nicht? «
» Nein « , hörte ich mich sagen und starrte auf seine Hand.
» Das ist nicht wahr, Alexandria. Sie wissen, warum Ihre Mutter den Covenant verlassen hat. «
Ich schüttelte den Kopf. » Meine Mutter hat mir den Grund nie genannt. Ich weiß nur, was andere gesagt haben. «
» Und was waren demnach die Beweggründe? «
Worauf wollte er hinaus? Ich verfolgte seine langsamen Bewegungen. » Angeblich hatte das Orakel ihr vorausgesagt, ich würde der nächste Apollyon werden. «
» Warum hätte sie deshalb fortgehen sollen? «
Ich konnte nicht anders– mein Blick huschte zur Galerie, wusste ich doch, dass sich Seth dort oben versteckte.
» Sehen Sie nicht weg, Alexandria! « , fauchte Telly.
Mittlerweile begriff ich, warum Marcus so besorgt gewirkt hatte. Ich bebte am ganzen Körper, so sehr wünschte ich mir, Telly in die Magengrube zu treten. Aufgebracht starrte ich ihn an. » Sie wollte mich beschützen. «
Als Nächste meldete sich eine Ministerin zu Wort. Die Stimme der älteren Reinblüterin hörte sich wie das Kratzen von Fingernägeln über Schmirgelpapier an. » Vor wem wollte sie Sie denn beschützen? «
Sollte ich weiter Telly ansehen oder die Ministerin? » Keine Ahnung.
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