Verlockende Versuchung
Sebastian war sich darüber im Klaren, dass Männer seine Mama sehr gerne betrachteten. Kurz darauf waren die beiden auf die Terrasse geschlichen.
Sie hatten nicht bemerkt, dass Sebastian ihnen gefolgt war.
Dort hatten sie sich vor seinen Augen geküsst. Ein ... zwei ... drei leidenschaftliche Küsse.
Küsse, wie sie sich nie zwischen seinem Vater und seiner Mutter abgespielt hatten.
Natürlich wusste Mama nicht, dass er sie beobachtet hatte. Er hatte es ihr nicht erzählt. Er hatte sich niemandem anvertraut, besonders nicht seinem Vater, denn ihm war bewusst, dass dies einen erneuten Streit nach sich ziehen würde. An j enem Tag erfuhr Sebastian die Bedeutung des Wortes Untreue ...
Mamas Geliebter .
Es war ein Geheimnis, das er tief in seiner Seele vergraben hatte ...
Sebastian hatte das qualvolle Gefühl, dass der heutige Abend ein weiteres Geheimnis barg, das ihm zu hüten oblag.
»Daphne! « , rief der Mann in der Kutsche.
Derselbe Mann, den Mama auf der Terrasse derart stürmisch geküsst hatte?, fragte sich Sebastian. Doch er wusste es nicht genau.
Seine Mutter wirbelte herum und winkte dem Herrn in der Kutsche, wandte sich dann erneut Sebastian zu, der die Lippen zusammenpresste.
»Ich muss gehen«, sagte sie beherzt. »Na, komm. Gib mir einen Kuss.«
Sebastian blieb stehen, wo er war, und das feuchte Gras durchnässte den Saum seines Nachtgewandes. Er fröstelte. »Papa wird verärgert sein«, gab er zu Bedenken.
»Dein Papa ist immer verärgert. Nun geh ins Haus zurück und husch in dein Bett. Wirst du dich an meiner Statt um deinen Bruder und deine Schwester kümmern, mein Liebes? « Sie stieß ein kleines, helles Lachen aus. »Ach, warum frage ich überhaupt? Natürlich wirst du es tun. Du bist ein so guter Junge.«
Sie lächelte und kniff ihm in die Wange. Und fast so, als hätte sie sich daran erinnern müssen, hauchte sie ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann lief sie zur Kutsche.
Einen Moment später half ihr der Mann beim Einsteigen. Für einen Augenblick, kurz bevor die Tür sich schloss, waren ihre Silhouetten im Mondlicht klar erkennbar. Der Mann beugte sich zu ihr hinab, und verschloss ihre Lippen leidenschaftlich mit seinem Mund.
Es war das letzte Mal, dass Sebastian seine geliebte Mama sah.
Erstes Kapitel
Ende März, 1815
Devon St. James war völlig ratlos.
In zwei Tagen war die Miete für das kleine Zimmer fällig, in dem sie lebte. Ihr Hauswirt, Mr . Phillips, verlangte auf einmal einen skandalös hohen Betrag. Devon war nicht nur empört, sondern zugleich erstaunt, denn der Raum bot gerade einmal genügend Platz für einen Stuhl und das schmale Bett, das sie mit ihrer Mutter bis zu deren Tod geteilt hatte. Zu allem Unglück hatte der Schuft sie erst gestern von der Mieterhöhung in Kenntnis gesetzt.
»Diebische Elster«, murmelte Devon entrüstet. Sie zog mitleidslos an den Schleifen ihrer Haube. Dieselbe Unbarmherzigkeit wurde den Bändern ihres wallenden Umhangs zuteil, den sie um ihre Schultern geworfen hatte. Ein altmodisches Kleidungsstück, dessen Saum ausgefranst, zerschlissen und für ihre zarte Figur viel zu groß war. Doch er erfüllte seinen Zweck - wie auch der Rest ihrer Garderobe - und dafür war sie dankbar.
Sie strich sich vorsichtig mit der Hand über die gerundete Wölbung ihres Bauches und hielt kurzzeitig vor dem Hintereingang des Crow's Nest inne, einer Taverne nahe des Strand, in der sie arbeitete. Nachdem sie die Tür fest hinter sich geschlossen hatte, trat sie hinaus in die feuchte, in Nebelschwaden gehüllte Nacht. Es verging kein Abend, an dem sie den langen Heimweg durch das Gewirr dunkler Seitengässchen nicht fürchtete. Heute war es sogar noch später als sonst gewesen, als der letzte Gast aus der Schankstube getorkelt war. Um sich Mut zu machen, besann sich Devon darauf, dass sie den Weg nun bereits seit einem Jahr ohne Zwischenfälle zurückgelegt hatte.
Ein Jahr. Um Himmels willen, ein ganzes Jahr!
Für den Bruchteil einer Sekunde ließ eine Woge der Traurigkeit ihr Innerstes erkalten. Es kam ihr vor, als sei eine Ewigkeit vergangen! Den Verlust ihrer Mutter fühlte sie wie einen Messerstich, der sich tief in ihr Herz gebohrt hatte. Zuweilen fiel es ihr sehr schwer, nicht zu verzagen. Aber etwas tief in ihr gab sich nicht damit zufrieden, für immer als Bedienung zu arbeiten. Mama hatte es ge hasst, dass sie dort arbeitete ebenso wie sie selbst. Nein, sie würde ihre Hoffnungen und Träume nicht aufgeben. Sie war sogar fester
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