Verloren unter 100 Freunden
austauschen. Sie sagt: »Ich weiß, dass einige Leute es [SMS] intimer finden, aber für mich ist es nicht das Richtige, um lange Geschichten zu erörtern.« Dieser Mutter erzähle ich, dass Skype etwas an sich habe, was mir so flüchtig erscheint, dass ich während der Gespräche mit meiner Tochter manchmal »Standbilder« von ihr speichere. Auf Skype sieht man einander, aber man kann keinen Blickkontakt herstellen. Mir gefallen die Standbilder nicht. Meine Tochter hat den Gesichtsausdruck
einer Fremden. Natürlich liegt eine gewisse Ironie in meinem Erleben des Digitalen als etwas Flüchtigem und dem selbstverlorenen Moment, in dem ich mir meine Tochter in vierzig Jahren ohne greifbare Belege für unseren Gedankenaustausch vorstelle. Denn das Digitale ist nur dann flüchtig, wenn man sich nicht die Mühe macht, es zu etwas Dauerhaftem zu machen.
Das archivierte Leben
Vannevar Bush war im Zweiten Weltkrieg der Leiter des »Office of Scientific Research and Development«, einer amerikanischen Regierungsbehörde zur Koordinierung der Forschung zu militärischen Zwecken. Er fragte sich mit einiger Sorge, was nach dem Krieg geschehen würde, wenn die Wissenschaftler wieder ins Zivilleben zurückkehrten. Um die Biologen machte er sich keine Sorgen – sie könnten immer an praktischen medizinischen Problemen arbeiten –, aber die Physiker bräuchten eine neue Richtung. In dem Aufsehen erregenden Atlantic-Monthly -Artikel »As We May Think« schlug Bush eine solche neue Richtung vor: Die Physiker sollten ein »Memex« entwickeln, ein Gerät, »in dem eine Person all ihre Bücher, Unterlagen und Briefe speichern kann, so dass sie ihr jederzeit zur Verfügung stehen«. So etwas wäre, schrieb Bush, »eine intime Ergänzung des Gedächtnisses«. 1 Bush träumte von Wissenschaftlern mit Brillen, die automatisch alles aufnehmen, »was es wert ist, aufgenommen zu werden«. Er träumte davon, alles Aufgenommene mit Anmerkungen zu versehen. Bushs Beschreibung, wie eine Person sich einen Weg durch all diese Daten bahnen würde, klingt dem Wesen nach wie eine Suche im Internet.
Ende der Siebzigerjahre begann der Computerwissenschaftler Steve Mann sein Leben mit einem ganz anderen Anliegen aufzuzeichnen
– als Akt des Widerstands. In einer Welt voller Überwachungskameras – auf der Straße, in Einkaufszentren, in Banken – wollte Mann die Kameras gegen die Welt richten. Um dieses Projekt durchzuführen, entwickelte er eine Möglichkeit, einen Computer, eine Tastatur, einen Bildschirm und einen Sender am Körper zu tragen. Er filmte sein Leben und stellte es ins Netz. 2
Manns Arbeit war eine Mischung aus Performancekunst, Ingenieursforschung und politischem Statement. Inzwischen ist sein einstmals subversives Unterfangen – ein Leben zu dokumentieren und es ins Netz zu stellen – für jedermann in den Bereich des Machbaren gerückt. Heute verfügt jeder, der ein Smartphone besitzt (ausgestattet mit einer Kamera und/oder einem Videorecorder), im Grunde über ein tragbares Archivierungsgerät. Und tatsächlich berichten viele Leute, die ein Smartphone besitzen, sie hätten ein schlechtes Gewissen, weil sie damit nicht ihr Leben dokumentieren.
Mitte der Neunzigerjahre startete der Computer-Pionier Gordon Bell ein Projekt, bei dem er ein vollständiges Archiv seines Lebens erschaffen wollte. Seine ersten Schritte bestanden darin, Bücher, Karten, Briefe, Memoranden, Poster, Fotografien und selbst die Logos auf seinem Kaffeebecher und seinen T-Shirts einzuscannen. Dann digitalisierte er seine Privatvideos, gefilmten Vorträge und Tonaufnahmen. Natürlich archivierte Bell auch alles, was er jemals geschrieben oder am Computer gelesen hatte, von persönlichen E-Mails bis hin zu akademischen Abhandlungen. Vor die Frage gestellt, wie er diese Daten gliedern und auffindbar machen sollte, begann Bell mit seinem Microsoft-Kollegen Jim Gemmell zusammenzuarbeiten, und das MyLifeBits-Projekt war geboren. Fortan trug Bell am Körper ein Tonaufnahmegerät und eine programmierte Kamera, die (aufgrund veränderter Lichtverhältnisse) registrierte, wenn Bell auf eine neue Person traf oder sich in einer neuen Umgebung
befand. 3 MyLifeBits zeichnete Bells Telefonate auf, die Lieder, die er hörte, und die Sendungen, die er im Radio und Fernsehen verfolgte. Wenn er am Computer saß, speicherte das Programm die von ihm besuchten Webseiten, die Dokumente, die er öffnete, und die Nachrichten, die er schrieb und erhielt. Es überwachte
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