Verloren unter 100 Freunden
das Gedächtnis und das Begriffsvermögen veränderten. Der Computer war ein evokatives Objekt, das zur Selbstreflexion anregte. Für mich wurde dies zum ersten Mal offenbar bei einem Gespräch, das ich Anfang der Achtzigerjahre mit der dreizehnjährigen Deborah führte. Nachdem sie an der Schule ein Jahr lang Programmieren gelernt hatte, sagte Deborah, dass es bei der Arbeit mit dem Computer immer »den Beitrag meines eigenen Verstandes und nun auch den Beitrag des Computer-Verstandes« gebe. Wenn man einmal soweit sei, könne man sich selbst »anders« betrachten. 2 Vor dem Computer reflektierten die Menschen darüber, wer sie selbst im Spiegel der Maschine sind. 1984 gab ich, mit Deborah im Sinn (und als Hommage an Simone de Beauvoirs The Second Sex [deutsch: Das andere Geschlecht , d. Ü.]), meinem ersten Buch über Computer und Menschen den Titel The Second Self (deutsch: Die Wunschmaschine – Der Computer als zweites Ich , d. Ü.).
Im intellektuellen Denken des Westens ist das Jahr 1984 natürlich von besonderer Bedeutung, weil man dabei automatisch an George Orwells gleichnamigen Roman denkt. 1984 beschreibt eine überwachte, manipulierte Gesellschaft, in der es keine individuellen Rechte gibt. Ich finde es ironisch, dass im Gegensatz dazu mein eigenes 1984-Buch über Technologien, die in vielen Science-Fiction-Romanen solche dystopischen Welten ermöglichen, voller Hoffnung und Optimismus war. Ich machte mir durchaus Sorgen wegen der Sogwirkung der neuen Technologie: Manche Menschen fanden Computer so unwiderstehlich, dass sie nicht mehr von ihnen lassen wollten. Auch fragte ich mich, ob es uns womöglich davon abhalten würde, an unseren realen – persönlichen und politischen – Problemen zu arbeiten, wenn wir uns zu sehr in Maschinenwelten verlören. Aber in meinem ersten Buch konzentrierte ich mich doch vor allem darauf, wie sehr Computer uns zu einer neuen Selbstreflexion anregten.
In dem Jahrzehnt, das der Veröffentlichung von Die Wunschmaschine folgte, veränderte sich die Beziehung des Menschen zum Computer. Während es sich in den Achtzigerjahren fast ausschließlich um Eins-zu-Eins-Beziehungen handelte – eine Person allein mit einer Maschine –, änderte sich dies in den Neunzigern. Der Computer wurde zu einem Portal, das es den Menschen ermöglichte, Parallelleben in virtuellen Welten zu führen. Die Menschen traten Netzwerken wie America Online bei und entwickelten eine neue Art von »Raumgefühl«. Es waren berauschende Zeiten: Wir mussten uns nicht mehr auf einige wenige Hand voll Freunde und Kontakte beschränken. Nun konnten wir mit hunderten, ja mit tausenden von Leuten in Verbindung stehen. Mein Fokus verlagerte sich von der Eins-zu-Eins-Beziehung mit einem Computer zu den Beziehungen, die Menschen miteinander eingingen, indem sie den Computer als Vermittler benutzten.
Ich begann im Großraum Boston wöchentliche Pizza-Partys zu veranstalten, um Leute kennen zu lernen, die mir ihre Lebensgeschichten in den neuen virtuellen Welten erzählten. Sie beschrieben die Erosion der Grenze zwischen dem Realen und dem Virtuellen, während sie zwischen beidem hin und her wechselten. Das Selbstbild wurde weniger einzigartig, sondern vielseitiger, wandelbarer. Wieder hatte ich das Gefühl, durch das Prisma der Technologie Zeuge einer Veränderung im Erschaffen und Erleben unserer eigenen Identitäten zu sein.
Darüber berichtete ich 1995 in meinem Buch Leben im Netz , das alles in allem einen positiven Ausblick auf die neuen Möglichkeiten bot, im Netz unterschiedliche Identitäten zu erkunden. 3 Aber zu jener Zeit war ich deutlich weniger optimistisch als 1984. Ich traf viele Menschen, die das Leben im Netz befriedigender fanden als das, was einige Leute abfällig »RL« nannten, das reale Leben. Doug, ein College-Student aus dem Mittleren Westen, besaß vier Avatare in drei verschiedenen Online-Welten. Diese Welten lagen bei ihm immer als offenes Fenster auf dem Desktop, neben seinen Seminararbeiten, dem E-Mail-Programm und seinen Lieblingsspielen. Er erzählte mir, das RL sei für ihn nur ein weiteres offenes Fenster. Und, fügte er an, »normalerweise ist es nicht mein bestes«. Wohin sollte dies führen?
Mitte der Neunzigerjahre zeichneten sich zwei Richtungen ab. Die erste war die Entwicklung des voll vernetzten Lebens. Um sich im Internet zu bewegen, benötigte man kein bestimmtes Ziel mehr. Mit Browsern und Suchmaschinen – Mosaic, Netscape, Internet Explorer, Google –
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