Verloren unter 100 Freunden
Geburtstagen und Familienausflügen lösen nostalgische Gefühle aus. Aber während meines Besuchs setzt Bell diverse Suchwerkzeuge ein, um ein bestimmtes Foto zu finden, das nicht auf dem Bildschirm erscheint. Er versucht es mit verschiedenen Herangehensweisen. Nichts funktioniert; er verliert das Interesse. Man spürt eine neue Dynamik: Wenn man vom Computer abhängt, um sich an die Vergangenheit zu erinnern, konzentriert man sich auf den Teil der Vergangenheit, der im Computer gespeichert ist. Und man beginnt die Dinge zu bevorzugen, die sich am leichtesten finden lassen. Mein Bildschirmschoner, mein Leben.
Und es gibt noch andere Nebenwirkungen. Bell sagt, er könne sich nicht mehr auf Bücher einlassen. Er besorgt eines, schaut hinein, aber »dann verschenke ich es, weil es nicht in meinem [Computer-] Speicher vorhanden ist. Für mich sind Bücher fast passé.« 9 Der Journalist Clive Thompson, ein weiterer von Bells Besuchern, denkt über diesen Aspekt von Bells Experiment nach. Thompson sagt:
»Wenn etwas nicht in der Datenbank vorliegt, existiert es nicht. Das ist der unheimliche philosophische Lehrsatz, der sich aus Bells Projekt ergibt.« 10
Womöglich ist dieser Lehrsatz gar nicht so philosophisch. Zu einem gewissen Grad leben wir ihn bereits. Denken wir an Washington, D. C., am Tag des Amtsantritts des neuen Präsidenten im Jahr 2009. Arme werden in die Höhe gereckt, Handys glitzern in der Sonne. Die Leute machen Fotos von sich selbst, von Fremden, von den JumboTron-Plasma-Leinwänden, auf denen die Zeremonie übertragen wird. Es ist eine Feier, bei der es um persönliche Anwesenheit geht, aber die Menschen richten ihre Intention auf jene, die nicht dabei sind. Es ist wichtig, Fotos dieses Tages auf dem eigenen Handy zu haben. Und es ist wichtig, die Fotos zu verschicken. Ein Foto der Amtseinführung oder eine Kurznachricht, ein Beitrag im Netz, eine E-Mail, ein Tweet – all dies ist eine Bestätigung des Gefühls, dabeigewesen zu sein. Früher reichte es, ein Foto zu machen, um seine Anwesenheit zu verifizieren – man denke an all die Touristen, die unbedingt ein eigenes Foto von der Mona Lisa und von sich selbst vor dem Gemälde knipsen wollten. Heutzutage reicht das Foto nicht mehr aus. Man muss es verschicken. Auf der Amtseinführungsbühne halten geladene Gäste ihre Handys und Digitalkameras in die Höhe. Die fotografierten Berühmtheiten machen selbst Fotos. Wir alle haben uns zum Gebrauch von Technologien für die Erinnerung und Anwesenheitsbestätigung drängen lassen. 11 Während ich im Januar 2010 an diesem Buch schreibe, zeigt die neue Ausgabe des New Yorker einen Mann und eine Frau am Beginn einer Ski-Abfahrtspiste. Der Mann benutzt seine Digitalkamera, die Frau knipst mit ihrem Handy.
Sammeln und erinnern
Als ich erfahre, dass die MyLifeBits-Software mittels ihrer Gesichtserkennungstechnologie Fotos automatisch beschriftet, muss ich an meine Kindheit denken, als meine Mutter lustige Sprüche, kleine Reime oder sentimentale Bemerkungen auf die Rückseite der Familienfotos schrieb. Sie verstaute sie immer alle zusammen in einer großen Schublade, so dass man, wenn man wahllos ein Foto herauszog, stets überrascht wurde. Die Momente vor der Foto-Schublade waren Zeiten der Erinnerung. Oft wurde dabei gelacht, manchmal war man traurig. Bell und Gemmell betrachten das Beschriften von Fotos als »vertracktes« technisches Problem, als etwas, das der Computer lernen muss. Sie fassen das Thema zusammen, indem sie sagen, dass Menschen »nicht die Bibliothekare unserer digitalen Archive sein möchten – wir möchten, dass der Computer der Bibliothekar ist«. 12 Langsam aber sicher verschiebt sich die Einstellung zum eigenen Leben. Meine Mutter, die freudig unsere Familienfotos beschriftete, hat sich nie als Bibliothekarin betrachtet.
Bell sagt, das »Hochladen von Erinnerungen« in den Computer »gibt einem ein Gefühl von Sauberkeit«. Gesäuberte Erinnerungen, frei von willkürlichen, unzuverlässigen Assoziationen? Wollen wir diese Sauberkeit wirklich? 13 Marcel Proust hat sich beschwerlich und detailversessen durch seine Erinnerungen gearbeitet – manches fiel ihm mühelos ein, anderes musste er sich mühselig wieder ins Gedächtnis rufen –, um Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu verfassen. Aber man denkt bei Proust nie daran, dass er seine Erinnerungen »gesäubert« hätte, während er in seiner mit Kork ausgekleideten Schreibkammer arbeitete. Sigmund Freud zufolge
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