Verloren unter 100 Freunden
war, sich dem Netz zu überantworten. Anschließend wird man weggespült.
Für diejenigen, die ständig mit allem und allen verbunden sind,
mag es Zweifel geben (weil Leben nur noch Darstellung ist, weil Gefühlsnuancen, die persönliche Begegnungen bieten, verloren gehen), aber nichtsdestotrotz genießen sie die fortwährende Gesellschaft anderer Leute. Für diejenigen, die nicht verbunden sind, kann es eine fast unheimlich anmutende Einsamkeit geben, selbst in den Straßen der Heimatstadt. Kara, Mitte fünfzig, hat das Gefühl, dass das Leben in ihrer Heimatstadt Portland leer geworden ist. »Manchmal gehe ich durch die Straßen und bin der einzige Mensch, der nicht auf ein Smartphone starrt. Ich suche fast nach einer anderen Person, die kein Telefon in der Hand hält.« Mit der nostalgischen Sehnsucht – die junge und alte Menschen befallen kann – nach einem Zunicken auf dem Bürgersteig fügt Kara etwas wehmütig an: »Niemand ist wirklich dort, wo er gerade ist. Die Leute unterhalten sich mit Personen, die meilenweit entfernt sind. Ich vermisse meine Mitmenschen. Aber sie sind letztlich diejenigen, denen etwas entgeht.« Die Nostalgie gewährleistet, dass uns bestimmte Dinge erhalten bleiben: die Dinge, die wir vermissen.
Es gibt keine einfachen Antworten darauf, ob das Netz ein Ort ist, an dem man wahrhaftig sein kann, an dem man sich des Lebens erfreuen und frei von Resignation leben kann. Aber dies sind gute Themen, um ein Gespräch zu beginnen. Bei einem solchen Gespräch müssten wir fragen, ob dies die Werte sind, nach denen wir unser Leben beurteilen möchten. Falls dem so ist und falls wir in einer Technologiekultur leben, die diese Werte nicht unterstützt, wie kann man diese Kultur gemäß bestimmter Spezifikationen umgestalten, die das respektieren, was uns lieb und teuer ist – unsere geheiligten Bereiche? Könnten wir zum Beispiel ein Netz aufbauen, in dem das Private besser geschützt ist und das anerkennt, dass dies, genau wie frei zugängliche Informationen, zentral ist für ein demokratisches Leben?
Der Ausdruck »geheiligter Bereich« wurde für mich in den Achtzigerjahren
bedeutsam, als ich Scharen von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Designern studierte, die intensiv mit computergestützten Simulationen zu arbeiten begannen. Angehörige jeder dieser Berufsgruppen hielten in ihrer Arbeit bestimmte Aspekte für unantastbar. Es waren Bereiche, in denen sie weiterhin auf Simulationen verzichten wollten, weil dies die für sie befriedigendsten Teile ihrer Arbeit waren. Für Architekten war es das Zeichnen von Hand. Es war der Bereich, in dem die Gestaltung den Körper des Architekten miteinbezog. Es war der Bereich, in dem Architekten zu Künstlern wurden. Es war der Bereich, in dem die zeichnerische Handschrift einem Gebäude einen persönlichen Anstrich gab. Und es war der Bereich, in dem Architekten, die ja oft in großen Teams arbeiten, sich als eigenständig erlebten. Selbst die enthusiastischsten Befürworter computergestützten Designs verteidigten das Zeichnen per Hand. Als ihre Studenten diese Fähigkeit zu verlieren begannen, schickten die Professoren sie in Zeichenkurse. Es ging nicht darum, den Computer abzulehnen, sondern darum sicherzustellen, dass Architekten den Computer gemäß ihrer eigenen Wertvorstellungen benutzen. Ein geheiligter Bereich ist kein Ort zum Sich-Verstecken. Es ist ein Ort, an dem wir uns selbst und unsere Verpflichtungen erkennen.
Als Thoreau darüber nachsann, »wo und wofür ich lebe«, verband er den Ort und die Werte miteinander. Wo wir leben, verändert nicht nur die Art, wie wir leben; es kündet auch davon, zu wem wir werden. Seit kurzem verspricht uns die moderne Computertechnologie ein Leben auf dem Bildschirm. Welche Werte, hätte Thoreau gefragt, ergeben sich aus diesem neuen Ort? Wo leben wir und wofür leben wir, wenn wir in Simulationen abtauchen? 9
Epilog
Der Brief
Im September 2009 kehre ich von Dublin nach Boston zurück. Ich habe meine Tochter Rebecca nach Irland begleitet und ihr beim Einrichten des Studentenzimmers geholfen, das sie für ein Jahr bewohnen wird, bevor sie in New England aufs College geht. Ich bin seit einem Tag aus Dublin zurück und hatte schon viel Kontakt mit Rebecca, alles sehr süß. Mich erreichen mehrere Kurznachrichten: Sie hat ihren roten Lieblingsmantel vergessen; sie möchte ihre grüne Steppjacke und ein pinkfarbenes Tuch, das sie als Baldachin übers Bett hängen könnte. Ob ich ihr die Sachen bitte
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