Verloren unter 100 Freunden
wir uns erinnern. Eine beobachtende Software »lernt«, was unsere »Favoriten« sind, und ordnet selbstständig an, was erinnerungswürdig ist. Eingenommen von unseren Favoriten übersehen wir, was sich zu bestimmten Zeiten unseres Lebens am Rande unseres Blickfeldes befand.
Das Memex und MyLifeBits entsprangen beide dem Gedanken, dass die Technologie Kapazitäten entwickelt hat, die man nutzen sollte. Es gibt einen unausgesprochenen Pakt mit der Technologie, bei dem wir zustimmen, ihr Potential nicht zu vergeuden. Kevin Kelly formuliert diesen Grundsatz in einer Weise um, die der Technologie sogar noch größeres Gewicht verleiht: Während die Technologie sich immer weiter entwickelt, zeigt sie uns, was sie tun »möchte«. Um friedvoll mit der Technologie zu leben, müssten wir uns nach Kräften bemühen, ihren Wünschen zu entsprechen. Dieser Logik zufolge scheint es, dass die Technologie gegenwärtig nur zu gerne in unseren Erinnerungen schwelgen möchte.
Ein Brief nach Hause
Im Spätsommer 2009 beginne ich, dieses Kapitel zu verfassen. Nach einigen Wochen unterbrechen die jüdischen Feiertage meine Arbeit. An Jom Kippur, dem Versöhnungstag, gibt es einen speziellen Gottesdienst, um die Toten zu betrauern. Er wird Yizkor genannt. Die verschiedenen Gemeinden feiern diesen Gottesdienst auf unterschiedliche Weise. In meiner Synagoge hält der Rabbi vor dem Gottesdienst
eine Predigt. In diesem Jahr lassen seine Worte mich innehalten. Dinge, die mir bisher kompliziert erschienen, werden nun klar. Der Rabbi spricht darüber, wie wichtig es ist, mit den Toten zu sprechen. Sein Grundsatz lautet, dass wir mit den Toten reden wollen und müssen . Es ist eine bedeutsame, ganz und gar nicht rührselige Sache. Der Rabbi rät uns, den Toten vier Dinge zu sagen: Es tut mir leid. Ich danke dir. Ich vergebe dir. Ich liebe dich. Das sei es, was uns menschlich mache, über Zeit und Entfernung hinweg.
Als meine Tochter und ich unser erstes Skype-Gespräch Dublin-Boston führen, sichte ich gerade mein Material über Gordon Bell und das MyLifeBits-Programm. Ich erzähle Rebecca, ich schriebe über die Möglichkeit, alles zu archivieren, was wir im Leben tun. Ich frage sie, ob sie es gut fände, ein digitales Archiv ihrer gesamten Kommunikation zu besitzen, die sich während ihres Dublin-Aufenthalts ansammelt: E-Mails, Kurznachrichten, Instant Messages, Facebook-Einträge, Anrufe, Gespräche, Suchen im Internet, Fotos von allen Menschen, denen sie begegnet, und von allen Reisen, die sie in dieser Zeit unternimmt. Sie überlegt. Nach einer Weile sagt sie: »Mensch, so eine Sammelwut ist unheimlich.« Wenn ein Mensch sammelwütig ist und Myriaden von Dingen hortet, bedeutet dies, dass er alles gleich gewichtet, jeden Menschen, jedes Gespräch, jeden Ort. Rebecca bevorzugt menschliche Akte des Erinnerns, bei denen gefiltert und aussortiert wird, bei denen die verschiedenen Ereignisse ihrer Gewichtung entprechend in verschiedenen Medien festgehalten werden – im Sammelalbum, im Tagebuch, im Schnellhefter. Und mit achtzehn Jahren spürt Rebecca möglicherweise, dass blindwütiges Archivieren ihr beim Leben im Weg stehen würde. Um das Leben wirklich auszukosten, müssen wir uns vielleicht der Fiktion hingeben, überhaupt nichts zu archivieren. Denn im archivierten Leben leben wir für unser Spiegelbild dafür, wie andere uns sehen.
Während Rebecca und ich darüber sprechen, was ihr in dem Jahr ihrer Abwesenheit wichtig ist, erzähle ich ihr, dass ich mir die Briefe angeschaut habe, die meine Mutter und ich uns vor vierzig Jahren geschrieben haben, als ich von zu Hause fortging. Ich frage meine Tochter, ob sie mir nicht auch einen Brief schreiben wolle. Da sie mir regelmäßig Kurznachrichten schickt und wir auf Skype gerade darüber sprechen, welche Schuhe sie zum »Zurück in die Zukunft«-Ball an ihrem Dubliner College tragen soll, ist sie einen Moment lang aufrichtig verwirrt und sagt: »Ich wüsste gar nicht, worüber ich schreiben soll.« Ich kann nachvollziehen, dass es wegen unseres regen, regelmäßigen Kontakts so aussehen könnte, als wären alle Themen zwischen uns erschöpfend behandelt. Dennoch sage ich etwas in der Art von: »Du könntest mir schreiben, wie du deine Zeit in Dublin findest, wie du dich fühlst. Dinge, die mir kostbar wären.« Über Raum und Zeit hinweg, durch das Skype-Goldfischglas, starrt Rebecca mich aus ihrem Studentenzimmer an und sagt: »Mal sehen. Vielleicht fällt mir ja was ein.«
Während
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