Verloren unter 100 Freunden
Möglichkeit, mir Gedanken darüber zu machen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Über Konnektivität nachzudenken erlaubt mir, darüber zu reflektieren, was wir füreinander bedeuten. Dieses Buchprojekt ist abgeschlossen; dass die darin behandelten Themen mich weiterhin beschäftigen werden, darf als sicher gelten.
Sherry Turkle
Boston, Massachusetts
August 2010
Einführung
Verloren unter 100 Freunden
Die moderne Technologie verspricht uns, unser Privatleben neu zu gestalten. Sie bietet Simulationen an, die das wahre Leben in den Schatten stellen. In der Werbung für Second Life, eine virtuelle Welt, in der man seinen persönlichen Avatar erschafft, ein Haus baut, eine Familie gründet und ein soziales Leben aufbaut, heißt es im Prinzip: »Endlich gibt es einen Ort, an dem du dich, deine Freunde und dein Leben liebst.« 1 Die meisten der durch Avatare repräsentierten Bewohner von Second Life sind reicher, jünger, schlanker und besser gekleidet als im wahren Leben. Und wir sind hingerissen vom Gedanken an soziale Roboter, die die meisten von uns zum ersten Mal in Gestalt eines künstlichen Haustiers sehen. Zhu-Zhu-Hamster, das angesagteste Spielzeug der Weihnachtssaison 2009/ 2010, werden als »besser als jedes lebendige Haustier je sein könnte« angepriesen. Sie seien liebenswert, würden auf uns eingehen, müssten nie saubergemacht werden und würden niemals sterben.
Die Technologie ist verführerisch, wenn das, was sie anbietet, auf unsere menschlichen Schwachstellen trifft. Und wie wir wissen, haben wir viele Schwachstellen. Wir sind einsam, aber wir fürchten uns vor Nähe. Computergestützte Verbindungen und soziale Roboter suggerieren uns, unter Freunden zu sein, ohne die Anforderungen einer Freundschaft erfüllen zu müssen. Unser vernetztes Leben erlaubt es, sich voreinander zu verstecken, obwohl wir gleichzeitig alle an der virtuellen Nabelschnur hängen. Wir schicken lieber eine SMS, als miteinander zu sprechen. Dazu die Geschichte einer gestressten Mutter Ende vierzig:
»Ich musste ein neues Kindermädchen suchen. Die Kandidatinnen befrage ich am liebsten bei ihnen zu Hause, um sie in ihrer eigenen Umgebung zu erleben und nicht nur in meiner. Ich vereinbare also einen Termin mit Ronnie, die sich auf die Stelle beworben hat. Ich erscheine vor ihrer Haustür, und ihre Mitbewohnerin macht auf. Es ist eine junge Frau, vielleicht einundzwanzig, die gerade eine SMS schreibt. Ihre Daumen sind bandagiert. Mit mitfühlendem Gesichtsausdruck betrachte ich die winzigen Daumenschienen: ›Das muss wehtun.‹ Aber sie zuckt nur mit den Schultern und sagt, solange sie ihre Kurznachrichten schreiben könne, sei alles egal. Ich erzähle ihr, ich sei gekommen, um mit Ronnie zu sprechen; dies sei ihr Vorstellungsgespräch. Ob sie wohl bei Ronnie anklopfen könne? Die Frau mit den bandagierten Daumen schaut mich verdutzt an. ›Oh, nein‹, sagt sie, ›das würde ich nie tun. Das wäre aufdringlich. Ich schicke ihr eine Nachricht.‹ Und dann hat sie Ronnie, die keine fünf Meter entfernt in ihrem Zimmer saß, eine SMS geschickt.«
Dieses Buch, das eine Trilogie über Computer und Menschen vervollständigt, stellt die Frage, wie es so weit kommen konnte und ob es uns gefällt, diesen Punkt erreicht zu haben.
In Die Wunschmaschine habe ich die subjektive Seite des Computers untersucht – nicht was Computer für uns tun, sondern was sie mit uns tun, wie sie unser Denken und unser Selbstbild verändern, was sie mit unseren Beziehungen tun. Von Beginn an haben interaktive und reaktive Computer dazu angeregt, über das Ich und den Unterschied zwischen Mensch und Maschine nachzudenken. Sind intelligente Maschinen lebendig? Falls nicht, warum? In meinen damaligen Studien fand ich heraus, dass vor allem Kinder dazu neigten, diese neue Objekt-Kategorie, das computerisierte Objekt, als »irgendwie lebendig« zu betrachten – und diese Entwicklung ging weiter. In Leben im Netz verlagerte sich mein Fokus von der
Veränderung des Menschen durch den Computer darauf, wie er sich in Online-Räumen neue Identitäten erschafft. In Verloren unter 100 Freunden schildere ich nun, wie die heute existierenden Technologien diese beiden Ansätze auf eine neue Ebene heben.
Computer warten nicht mehr darauf, dass Menschen eine Bedeutung auf sie projizieren. Heute suchen soziale Roboter unseren Blick, sprechen uns an und lernen, uns zu erkennen. Sie bitten um unsere Zuwendung; als Reaktion darauf hoffen wir, dass auch sie uns
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