Verlorene Illusionen (German Edition)
vorlesen höre.«
Lucien blieb, von Herrn von Bargeton und von Louise mit Auszeichnung behandelt, von den Lakaien mit dem Respekt bedient, den sie für die bevorzugten Freunde des Hauses hatten, im Hotel Bargeton. Mehr und mehr betrachtete er den Genuß eines Vermögens als sein eigen, dessen Nutznießung ihm gestattet war. Als der Salon voller Menschen war, fühlte er sich der Dummheit des Herrn von Bargeton und der Liebe Louisens so sicher, daß er eine herrische Miene annahm, zu der ihn seine schöne Geliebte nur ermutigte. Er genoß die Freuden der Despotie, die Naïs erobert hatte und die sie gern mit ihm teilte. Kurz, er versuchte an diesem Abend die Rolle eines kleinstädtischen Helden zu spielen. Einige unter den Anwesenden dachten, als sie die neue Haltung Luciens bemerkten, er wäre, wie man sich wohl für eine bestimmte Sache ausdrückt, mit Frau von Bargeton schon ganz und gar einig. Amélie, die mit Herrn du Châtelet gekommen war, sprach in einer Ecke des Salons, in der sich die Eifersüchtigen und Neidischen gesammelt hatten, von diesem großen Unglück als einer sichern Sache.
»Machen Sie Naïs nicht für die Eitelkeit eines jungen Menschen verantwortlich, der voller Stolz darauf ist, daß er sich in einer Welt befindet, in die er niemals zu kommen hoffte«, sagte Châtelet. »Sehen Sie nicht, daß dieser Chardon die anmutigen Phrasen einer Weltdame für ein gewisses Entgegenkommen hält? Er kennt noch nicht den Unterschied zwischen der Verschwiegenheit der wahren Leidenschaft und der Beredsamkeit der Protektion, die seine Schönheit, seine Jugend und sein Talent verdienen! Die Frauen wären sehr beklagenswert, wenn sie für alle Wünsche verantwortlich wären, die sie uns einflößen. Er ist sicher verliebt, aber Naïs ...«
»O, Naïs,« erwiderte die boshafte Amélie, »Naïs ist sehr glücklich über diese Leidenschaft. In ihrem Alter hat die Liebe eines jungen Mannes so viel Verführerisches! Man wird bei ihm wieder jung, man macht sich zum jungen Mädchen, man nimmt die Manieren, das ängstlich verlegene Wesen des jungen Mädchens wieder an, und man denkt nicht an die Lächerlichkeit ... Sehen Sie nur an, der Sohn eines Apothekers spielt sich bei Frau von Bargeton als Herr auf!«
»Die Liebe kennt nicht solche Schranken«, trällerte Adrian.
Am nächsten Tag gab es kein einziges Haus in Angoulême, in dem man nicht von der großen Intimität zwischen Herrn Chardon, alias von Rubempré, und Frau von Bargeton sprach: sie, die kaum ein paar Küsse getauscht hatten, wurden von der Welt schon des sträflichsten Glückes bezichtigt. Frau von Bargeton erntete nun die Strafe für ihre Stellung als Königin von Angoulême. Zum Seltsamsten in den Absonderlichkeiten der Gesellschaft gehören diese ihre launenhaften Urteile und ihre verrückten Anforderungen. Es gibt Menschen, denen alles erlaubt ist: sie können die unvernünftigsten Dinge machen, ihnen steht alles wohl an; alle beeifern sich, ihre Handlungen zu rechtfertigen. Aber es gibt andere, gegen die die Welt unglaublich streng ist: die müssen alles recht machen, dürfen sich nie täuschen, nie einen Fehler machen, nicht einmal eine Dummheit begehen; man könnte sie für bewunderte Statuen halten, die man von ihrem Postament nimmt, sowie der Frost ihnen einen Finger oder die Nase beschädigt hat; man gestattet ihnen nichts Menschliches, sie sind verpflichtet, immer göttlich und vollkommen zu sein. Ein einziger Blick, den Frau von Bargeton Lucien zuwarf, galt da ebensoviel wie die zwölf Jahre Liebesglück zwischen Zizine und Francis. Ein Händedruck zwischen den beiden Liebenden zog alle Blitzstrahlen der Charente auf sie herab. David hatte aus Paris geheime Ersparnisse mitgebracht, die er für die Kosten, die die Hochzeit erforderte, und für den Aufbau des zweiten Stockwerks des väterlichen Hauses bestimmte. Dieses Haus vergrößern, hieß doch für sich selbst arbeiten. Früher oder später mußte es ihm anheimfallen; sein Vater war achtundsiebzig Jahre alt. Der Buchdrucker ließ also die Wohnung Luciens aus Fachwerk errichten, um die alten Mauern des rissigen Hauses nicht zu überlasten. Es machte ihm Freude, die Wohnung im ersten Stock, wo die schöne Eva ihr Leben verbringen sollte, artig einzurichten und zu schmücken. Es war für die beiden Freunde eine Zeit ungetrübter Heiterkeit und Freude. Lucien war wohl der erbärmlichen Verhältnisse des Provinzdaseins müde und hatte die schmutzige Knickrigkeit satt, die aus einem
Weitere Kostenlose Bücher