Verlorene Illusionen (German Edition)
beiden Liebenden vorfanden, glichen sehr den Fesseln, mit denen die Liliputaner den Gulliver geknebelt hatten. Es waren gehäufte Nichtigkeiten, die jede Bewegung unmöglich und die heftigsten Wünsche zunichte machten. So mußte zum Beispiel Frau von Bargeton immer gewärtig sein, Besuche zu empfangen. Hätte sie für die Stunden, wo Lucien kam, ihre Tür verschlossen gehalten, dann wäre schon alles aus gewesen, und es wäre ebenso gut gewesen, mit ihm zu entfliehen. Sie empfing ihn in der Tat in dem Boudoir, an das er schon so gewöhnt war, daß er sich als Herr darin vorkam; aber die Türen blieben gewissenhaft offen. Alles ging ganz und gar tugendhaft vor sich. Herr von Bargeton ging in voller Harmlosigkeit hin und her, ohne daran zu denken, seine Frau könnte mit Lucien allein sein wollen. Wäre er das einzige Hindernis gewesen, so hätte ihn Naïs sehr gut wegschicken oder beschäftigen können; aber sie war mit Besuchen überlaufen, und es wurden ihrer um so mehr, je stärker die Neugier sich angestachelt fühlte. Die Menschen in der Provinz sind Spielverderber aus natürlicher Anlage, es macht ihnen Freude, entstehenden Liebesverhältnissen in den Weg zu treten. Die Bedienten gingen im Hause hin und wider, ohne daß man sie gerufen hatte und ohne vorher an die Tür zu klopfen; es waren das alte Gewohnheiten, wie eine Frau, die nichts zu verbergen brauchte, sie angenommen hatte. Wäre an diesen Gepflogenheiten im Hause etwas geändert worden, hätte das nicht ebenso viel besagt, als die Liebe einzugestehen, an der noch ganz Angoulême zweifelte. Frau von Bargeton konnte den Fuß nicht über die Schwelle setzen, ohne daß die Stadt wußte, wohin sie ging. Mit Lucien allein außerhalb der Stadt zu gehen, wäre ein entscheidender Schritt gewesen: es wäre weniger gefährlich gewesen, sich mit ihm bei sich zu Hause einzuschließen. Wenn Lucien nach Mitternacht, wenn keine Gesellschaft mehr zugegen war, bei Frau von Bargeton geblieben wäre, hätte es am nächsten Tage ein Gerede darüber gegeben. So lebte Frau von Bargeton in und außer dem Hause immer in der Öffentlichkeit. Diese Einzelheiten geben ein Bild von der ganzen Provinz: die Fehltritte sind da entweder eingestanden oder unmöglich.
Louise erkannte, wie alle Frauen, die von einer Leidenschaft hingerissen sind, in der sie sich nicht auskennen, nacheinander alle Schwierigkeiten ihrer Lage; sie schreckte davor zurück. Ihre Angst wirkte jetzt auf die Auseinandersetzungen ein, die so oft die schönsten Stunden, in denen zwei Liebende allein beisammen sind, in Anspruch nehmen. Frau von Bargeton besaß keinen Landsitz, auf den sie ihren geliebten Dichter mitnehmen konnte, wie es manche Frauen machen, die sich unter einem geschickt ersonnenen Vorwand auf dem Lande begraben. Sie war es müde, so öffentlich zu leben, fühlte sich aufgerieben von der Tyrannei, deren Joch so hart war, daß die Annehmlichkeiten nicht mehr in Betracht kamen, und dachte an l'Escarbas. Sie erwog, ihren alten Vater dort zu besuchen, so wütend war sie über diese elenden Hindernisse.
Châtelet glaubte nicht an so viel Unschuld. Er lauerte auf die Stunden, in denen Lucien zu Frau von Bargeton kam, und begab sich ein paar Augenblicke später ebenfalls dahin. Er ließ sich immer von Herrn von Chandour begleiten, der der indiskreteste Mensch dieses Klüngels war. Er ließ ihn immer zuerst eintreten und hoffte auf eine Überraschung. Er versteifte sich darauf, daß ihm ein Zufall zu Hilfe kommen werde. Seine Rolle und das Gelingen seines Plans waren um so schwieriger, weil er neutral bleiben mußte, um alle die Spieler des Dramas, das er aufführen wollte, zu lenken. Daher hatte er sich, um Lucien, dem er schmeichelte, und Frau von Bargeton, die nicht ohne Scharfblick war, sorglos zu machen, und um sich eine Haltung zu geben, an die eifersüchtige Amélie angeschlossen. Um Louise und Lucien besser ausspionieren zu können, war es ihm seit einigen Tagen gelungen, zwischen sich und Herrn von Chandour eine Meinungsverschiedenheit über die beiden Liebenden zustande zu bringen. Châtelet behauptete, Frau von Bargeton machte sich über Lucien lustig, sie sei zu stolz und von zu guter Herkunft, um zu einem Apothekerssohn herabzusinken. Diese Rolle des Ungläubigen gehörte zu dem Plan, den er geschmiedet hatte, denn er wünschte für den Verteidiger Frau von Bargetons zu gelten. Stanislaus blieb dabei, Lucien wäre kein unglücklicher Liebhaber. Amélie verschärfte die Auseinandersetzung,
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