Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
erwachen lassen. Schon kurz nach Sonnenaufgang waren die noch schlammigen Straßen, auf denen den gesamten eisigen Winter hindurch kaum ein lebendiges Wesen zu sehen gewesen war, mit emsigem Leben erfüllt. Obwohl von Frost und Kälte gezeichnet, wirkten die Menschen so froh, dass man den Eindruck gewinnen konnte, sie hätten den vergangenen Winter bereits vergessen. Es wurde gefeilscht und gestritten, Waren wechselten den Besitzer, man hämmerte und sägte, Dächer, Fenster und Wände wurden abgedichtet und instand gesetzt, kurz, das Leben schien wie jedes Frühjahr in die Stadt zurückzukehren. Doch dieser erste Eindruck trog, denn kein Winter ging spurlos vorüber, und dieses Jahr hatte die kältesten Frostperioden und längsten Schneegestöber des ganzen Jahrhunderts gebracht. Dies bewiesen nicht nur die Schäden, welche der grimme Frost an Pflastersteinen und Hauswänden hinterlassen hatte, sondern auch die blassen Kinder mit eingefallenen Wangen, die nun zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in den Gassen spielten. Manche lagen auch noch fiebrig zu Hause, falls es etwas gab, das sie Zuhause nennen konnten, und gerade in den kleinen Stein- oder Holzhäusern der Altstadt waren viele erfrorene Kinder zu beklagen. Auch unter den Erwachsenen der Stadt hatte der Winter seinen Tribut gefordert, und wie immer war es den Armen besonders schlecht ergangen. Nachdem dieser ungewöhnlich lange und harte Winter nun langsam seine Kraft verlor, kam zudem eine noch schrecklichere Bedrohung als der Frost auf die Stadt zu: der Hunger.
Zu dieser Jahreszeit konnte noch kein Ertrag aus den Feldern, die die Stadt umgaben, erwartet werden. Noch dazu waren beinahe alle Speicher bis auf das letzte Korn entleert. Nur einige reiche Bürger und vereinzelte Großgrundbesitzer mit Gehöften außerhalb Seewaiths hatten noch genügend Vorräte in ihren Privatspeichern gehortet, um ihre Bediensteten zu versorgen und sich selbst auch jetzt noch jenes ausschweifende Leben zu ermöglichen, für das sie zu Recht den Namen »Rundadel« erhalten hatten. Zu Abgaben an die Armen waren nur sehr wenige bereit, denn dies hätte für sie folglich einen gewissen Verzicht bedeutet.
Die meisten Erträge zur Versorgung der Stadt wurden bislang durch den Fischfang erzielt. Da aber die Boote in Seewaith nach dem Winter in einem erbärmlichen Zustand waren und zusätzlich um diese Jahreszeit auch ständig mit plötzlichen Stürmen und treibenden Eisschollen gerechnet werden musste, konnten die Fischer der See wenig mehr abringen, als was für sie selbst und ihre Familien zum Überleben notwendig war.
Die somit beinahe unvermeidliche Hungersnot in diesem Jahr stellte die Stadträte vor eine Zahl schier unlösbarer Probleme. Die Bevölkerung fühlte sich vollkommen alleingelassen von den so genannten Vätern der Stadt. Viele Menschen waren dem Hungertod bereits so nahe gekommen, dass der Ausweg, der ihnen nun von Barmherzigkeit heuchelnden Scharlatanen angeboten wurde, wie ein Wunder erschien.
Gegen Ende des Winters zogen nämlich, wie schon oft in den letzten Jahren, eine Schar von Wanderpredigern, Heilem, Anwerbern von Soldaten oder Seeleuten und ähnliche Gestalten durch die Straßen, die vorgaben, junge Lehrlinge für die jeweiligen Berufe zu suchen. Als Gegenleistung für die Trennung von ihren Kindern erhielten die verarmten Familien eine bescheidene Geldsumme oder sogar einige Lebensmittel. Natürlich erschien dies vielen als letzte Rettung vor dem Hungertod, und ihren Kindern versprach eine ordentliche Berufsausbildung eine Zukunft, von der sie in Seewaith nur träumen konnten.
In Wahrheit handelte es sich bei diesen Gestalten aber um Sklavenhändler, die jedes Jahr skrupelloser in ihren Methoden wurden. Sie überzeugten die hungerleidende Bevölkerung erfolgreich davon, dass es für sie das Beste wäre, sich von ihren Kindern zu trennen. Durch die Folgen des harten Winters drohte der Handel mit menschlicher Ware in diesem Jahr unvorstellbare Ausmaße anzunehmen. Armut und Hunger arbeiteten gegen die unablässigen Versuche der Stadträte, den betroffenen Bürgern die tatsächlichen Beweggründe solcher Betrüger aufzuzeigen. Außerdem fehlten jegliche Beweise über den Verbleib der Kinder. Die Sklavenhändler hatten nämlich einen schockierend einfachen Trick ersonnen, um das Vertrauen der Bevölkerung zu bestärken. Jedes Jahr erlaubten sie einigen der verkauften Kinder die Rückkehr in ihre Heimatstadt, nachdem sie tatsächlich in den Genuss einer
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