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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Widerwillens zu erdrosseln; wenn es dann geschah, fügte sie sich völlig.
    Kein Wissenschaftler hat jemals behauptet, die Witwentötung bei den Kaulong habe für die Gesellschaft dieses Volkes einen Nutzen oder diene den langfristigen (posthumen) genetischen Interessen der erdrosselten Witwe oder ihrer Verwandten. Kein Umweltforscher konnte irgendein Merkmal in der Umwelt der Kaulong benennen, das die Sitte nützlicher oder verständlicher machen würde als nördlich der Wasserscheide von Neubritannien oder weiter östlich oder westlich im Süden der Insel. Ich kenne mit Ausnahme des verwandten Volkes der Sengseng, die Nachbarn der Kaulong sind, weder in Neubritannien noch in Neuguinea irgendeine andere Gesellschaft, die das rituelle Erdrosseln von Witwen praktiziert. Offenbar muss man die Sitte also als unabhängiges kulturelles Merkmal betrachten, das sich aus unbekannten Gründen gerade in dieser Region Neubritanniens entwickelt hat und irgendwann vielleicht durch die natürliche Selektion unter den Gesellschaften (das heißt dadurch, dass andere Gesellschaften in Neubritannien, die das Erdrosseln von Witwen nicht praktizieren, deshalb einen Vorteil gegenüber den Kaulong haben) ausgemerzt worden wäre, sich aber über einen beträchtlichen Zeitraum hinweg erhalten hatte, bis es durch äußeren Druck und Kontakt mit Fremden ungefähr 1957 abgeschafft wurde. Jedem, der mit irgendeiner anderen Gesellschaft vertraut ist, werden auch weniger extreme charakteristische Merkmale einfallen, die keinen erkennbaren Nutzen für die jeweilige Gesellschaft haben oder sogar schädlich zu sein scheinen und eindeutig keine Folge der örtlichen materiellen Bedingungen sind.
    Ein weiterer Ansatz zum Verständnis der Unterschiede zwischen Gesellschaften schließlich besteht darin, dass man kulturelle Überzeugungen und Praktiken erkennt, die regional weit verbreitet sind und sich historisch in der fraglichen Region ausgebreitet haben, ohne dass ein eindeutiger Zusammenhang mit den lokalen materiellen Bedingungen besteht. Bekannte Beispiele sind die nahezu allgemein verbreiteten monotheistischen Religionen und die nichttonalen Sprachen in Europa, die in krassem Gegensatz zur Häufigkeit nichtmonotheistischer Religionen und tonaler Sprachen in China und den angrenzenden Teilen Südostasiens stehen. Über die Ursprünge und die historische Ausbreitung der jeweiligen Formen von Religion und Sprache in den einzelnen Regionen wissen wir eine Menge. Mir wäre aber nicht bekannt, dass es überzeugende Gründe dafür gäbe, warum tonale Sprachen in einer europäischen Umwelt ihren Zweck weniger gut erfüllen sollten oder warum monotheistische Religionen sich von ihrem Wesen her vielleicht nicht für die Umwelt in China und Südostasien eignen. Religionen, Sprachen und andere Überzeugungen und Praktiken können sich auf zweierlei Weise ausbreiten. Zum einen können sich die Menschen verbreiten und ihre Kultur mitnehmen, wie es die europäischen Auswanderer in Amerika und Australien taten, wo sie europäische Sprachen und Gesellschaften nach europäischem Vorbild installierten. Die zweite besteht darin, dass Menschen die Überzeugungen und Praktiken anderer Kulturen übernehmen: Die modernen Japaner übernahmen beispielsweise den westlichen Kleidungsstil, und moderne Amerikaner essen heute Sushi, ohne dass westliche Emigranten Japan oder japanische Emigranten die Vereinigten Staaten überrollt hätten.
    Ein anderer Aspekt, der in meinen Erläuterungen in diesem Buch immer wieder auftauchen wird, ist die Unterscheidung zwischen unmittelbaren und letzten Erklärungen. Um diesen Unterschied zu verstehen, können wir uns vorstellen, wie ein Paar nach zwanzigjähriger Ehe zum Psychotherapeuten kommt, weil es sich scheiden lassen will. Auf die Frage des Therapeuten »Was führt Sie nach zwanzig Jahren plötzlich zu mir, und warum streben Sie die Scheidung an?« erwidert der Mann: »Sie hat mich mit einer schweren Glasflasche ins Gesicht geschlagen. Mit so einer Frau kann ich nicht leben.« Die Frau räumt ein, sie habe ihn tatsächlich mit der Flasche geschlagen, und das sei der »Grund« (das heißt die unmittelbare Ursache) für das Zerwürfnis. Der Therapeut weiß aber, dass Schläge mit Flaschen in einer glücklichen Ehe nur selten vorkommen, und erkundigt sich nach den eigentlichen Gründen. Die Frau sagt: »Ich konnte seine vielen Affären mit anderen Frauen nicht mehr ertragen, deshalb habe ich ihn geschlagen. Eigentlich sind die Affären

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