Verneig dich vor dem Tod
»Hast du Mella einmal kennengelernt?«
Die Augen des Geächteten weiteten sich leicht.
»Mella?« murmelte er.
»Gélgeis’ Zwillingsschwester. Sie glichen sich so, daß nur die engsten Familienmitglieder sie auseinanderhalten konnten.«
»Natürlich nicht. Warum fragst du, ob ich sie kenne?«
»Sie versuchte, Gélgeis die Heirat mit Cild auszureden. Es hieß, sie sei in dieses Land gebracht worden.«
»Aber Mella …«, begann Aldhere. Dann hielt er jäh inne.
»Ja? Mella … Was?« fuhr ihn Fidelma an.
»Mella wurde von Sklavenjägern gefangen und kam auf See um.«
»Woher weißt du das?«
Aldhere hob hilflos die Hände. »Das muß mir Gélgeis erzählt haben.«
»Aber das ereignete sich,
nachdem
Gélgeis ins Land des Südvolks kam. Woher wußte sie das?«
»Keine Ahnung. Sie hat es mir erzählt. Sie wußte es eben.«
»Wann hat sie es dir erzählt?«
»Daran erinnere ich mich nicht. Vermutlich auf einem unserer Spaziergänge.«
»Was hat sie genau gesagt?«
»Über Mella?« konterte Aldhere.
»Über Mella«, wiederholte Fidelma fest.
»Daß ihre Schwester, so wurde ihr berichtet, von Sklavenjägern gefangen wurde und daß deren Schiff auf See unterging. Mehr weiß ich auch nicht.«
Es war deutlich, daß Aldhere log. Doch warum tat er das?
Er stand auf.
»Genug geredet«, sagte er brüsk. »Ich habe Pflichten, denen ich nachkommen muß. Bleibt hier und ruht euch aus, bis ich zurück bin.«
Er ging hinaus, und sie saßen nun allein in der Hütte.
Eadulf wandte sich zu Fidelma um, doch sie hob die Hand und legte den Finger an die Lippen, während sie mit dem Kopf auf die Tür wies.
»Erzähl mir mehr von diesem Sigeric«, befahl sie mit etwas erhobener Stimme.
Eadulf war enttäuscht.
»Wie gesagt, er ist Oberhofmeister des Königs und war es zuvor schon bei König Athelwold. Er soll ein unehelicher Sohn Ricberts sein, der hier ungefähr drei Jahre lang herrschte. Ricbert war Heide und ermordete Eorpwald, der zum Christentum übergetreten war.«
Fidelma hob protestierend die Hände.
»Wahrhaftig, diese angelsächsischen Namen kann ich nicht richtig über die Zunge bringen. Du sagst, Sigeric ist Oberhofmeister? Ist er denn Bischof?«
»Nein, er ist immer noch Heide. Unsere Könige haben in ihm einen hervorragenden Berater und Oberrichter gefunden. Niemand kennt die Gesetze der Wuffingas besser als er. Das sind die Gesetze, die hier gelten …«
»Das habe ich schon begriffen«, sagte Fidelma spitz. Dann entspannte sie sich etwas. »Was mich interessiert, istfolgendes: Warum wird Sigeric, euer oberster Brehon, in Aldreds Abtei geschickt? Soll er wirklich die Begnadigung Aldheres verkünden, oder gibt es einen anderen Grund?«
Eadulf erkannte, worauf Fidelma hinauswollte.
»Meinst du, es hat etwas mit der Beschuldigung Cilds zu tun? Vielleicht haben Gadra oder sein Sohn sich an ihn gewandt. Ob Sigeric wohl hier ist, um dieselbe Tragödie abzuwenden, die du verhindern willst?«
»Ich wünschte, ich könnte das glauben«, sagte Fidelma. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß euer König Ealdwulf eine Ahnung von den Problemen hat, die aus dem
troscud
Gadras entstehen würden. Doch was ist seine Absicht? Zu ärgerlich, daß die Antwort auf diese Frage dahinten in Aldreds Abtei liegt.«
KAPITEL 15
Eadulf schaute sie beunruhigt an.
»Willst du im Ernst in die Abtei zurückkehren? Die Idee ist absurd.«
Fidelma setzte eine gleichgültige Miene auf.
»Dann nenn mir eine andere Methode, die Wahrheit herauszubekommen, als diese Rückkehr. In Aldreds Abtei laufen alle Fäden zusammen. Es könnte eine Fügung Gottes sein, daß dieser Anwalt oder Richter deines Volkes dorthin gefahren ist. Wenn er ein ehrlicher Mensch ist, kann er unsere Rettung bedeuten.«
»Doch wenn er es vorzieht, sich auf die Seite von Abt Cild zu stellen, was wird dann aus uns?« wandte Eadulf ein.
»Wenigstens einen Vorteil haben wir: Wir können in die Abtei gelangen, ohne daß uns jemand bemerkt, undvielleicht kommen wir bis zu den Gästezimmern durch und finden diesen alten Richter, bevor Abt Cild davon erfährt.«
»Das ist ein ziemlich verzweifeltes Vorgehen«, meinte Eadulf. »Höchstwahrscheinlich würden wir von Cild oder sogar von Sigerics Leibwache abgefangen, und dann könnten wir uns nicht helfen, geschweige denn anderen helfen oder das Rätsel lösen.«
Draußen waren laute Stimmen zu hören. Eadulf ging zur Tür der Hütte und schaute hinaus.
»Es ist Aldheres Frau – die fränkische Frau, von der ich
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