Verräterische Gefühle
entdeckt. Er schlüpfte in die Haut eines anderen und versteckte sich darin. So war er der Dunkelheit entkommen, die sein Leben zu ersticken drohte.
Er konnte sein, was er wollte: Ninjakämpfer, Ritter, Drachentöter, Vampir oder Superheld. In seiner Verzweiflung verlieh er sich auf diese Weise selbst die Kraft zu kämpfen, zu überleben und die zu beschützen, die er liebte.
In eine fremde Rolle zu schlüpfen, wurde Nathaniel zur Gewohnheit. Und so lebte er auch heute noch … allein und in Verkleidung, angewiesen auf nichts und niemanden.
Jemand anderer zu sein, bereitete ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten. Sein einziges Problem war Nathaniel Wolfe …
„Das Kleid macht Sie absolut nicht dick!“ Nur mit Mühe gelang es ihr, das Korsett über neu hinzugekommenen Speckröllchen ein Stück zu schließen. „Die Farbe schmeichelt Ihnen. Vergessen Sie nicht, dass Sie die Duchess of Gloucester sind. Da müssen Sie …“, Katie brach ab, als die Schauspielerin den Kopf wandte und ihr einen warnenden Blick zuwarf, „… staatsmännisch wirken“, vollendete sie tapfer den Satz. „Würdevoll und gravitätisch.“
„Mit anderen Worten … ich sehe alt und fett aus.“
„Niemals! Ich habe das Kostüm mit viel Bedacht ausgewählt.“ Zu spät merkte Katie, dass diese Versicherung durchaus missverständlich aufgefasst werden konnte, und errötete heftig. Wenn sie doch nur mit mehr Taktgefühl und Diplomatie gesegnet wäre! „Sie spielen eine trauernde Witwe, da können sie unmöglich strahlend und heiter auftreten.“
„Wollen Sie mir auch noch vorschreiben, wie ich meine Rolle interpretieren soll?“
„Nein, ich möchte nur, dass Sie erkennen, wie perfekt Sie in diese Rolle passen. Bitte, versuchen Sie, sich zu entspannen.“
Die alternde Diva schnaubte. „Wie soll ich das denn anstellen, wenn ich neben Nathaniel Wolfe auf der Bühne stehe? Er ist bissig, launenhaft und schrecklich sarkastisch! Als mir gestern ein winzig kleiner Fehler unterlaufen ist …“
„Hat er kein Wort gesagt, sondern Sie nur angeschaut“, nahm Katie ihr den Wind aus den Segeln.
„Aber wie! Sie haben ja keine Ahnung, wie destruktiv ein Blick sein kann, besonders, wenn er von Nathaniel Wolfe kommt! Als wenn man von einem Laserstrahl getroffen wird …“ Mit jedem Wort nahm ihre Erregung zu. Jetzt wedelte sie Katie mit einer gereizten Geste zur Seite. „Gehen Sie! Menschen, die kein Verständnis für mein Temperament und meine Gefühle aufbringen, ertrage ich einfach nicht.“
Temperament? Gefühle? Mürrisch und reizbar wäre wohl eher zutreffend, dachte Katie bei sich, behielt aber die Ruhe. „Ich muss erst noch den Reißverschluss von Ihrer Korsage schließen.“ Frustriert stellte sie fest, dass ihre Hände zitterten. „Hören Sie, wir sind alle gestresst.“
„Weswegen sollten Sie Stress haben?“, wurde sie höhnisch unterbrochen.
„Nun, ich …“ Fast hätte Katie der ältlichen Schauspielerin von ihrem bevorstehenden Treffen mit der berühmten englischen Kostümdesignerin erzählt und was davon für sie abhing. Und über die Verbindlichkeiten, die so hoch waren, dass sie jede Nacht wach lag und mit klopfendem Herzen nach Auswegen aus der Schuldenfalle suchte. Doch wenn morgen alles glatt lief, wäre das die Wende …
„Sie können ja nicht einmal erahnen, wie es ist, neben einem Hollywoodstar bestehen zu müssen! Und das im Wissen, dass alle nur gekommen sind, um ihn zu sehen.“
„Bitte beruhigen Sie sich, es ist nur das Lampenfieber vor der Premiere, das alle kennen.“
„Alle außer Nathaniel Wolfe!“, fauchte die andere giftig. „Der ist so unbeweglich wie ein Eisberg und genauso kalt. Niemand wagt sich dicht an ihn heran, aus Angst, selbst zu vereisen.“
„Um dann wie die Titanic zu versinken …“, murmelte Katie abwesend.
„Wollen Sie mich jetzt auch noch mit der Titanic vergleichen?“
„Nein!“, rief Katie ehrlich entsetzt. „Sie sehen wirklich toll aus, und das Kleid sitzt absolut perfekt.“
„Bald nicht mehr. Wenn ich Stress habe, muss ich essen. Sie sind jung und schön und haben keine Ahnung, wie ich mich fühle!“, warf sie Katie vor. „Warum lungern Sie eigentlich nie hinter der Bühne herum, um den unvergleichlichen Nathaniel Wolfe anzuschmachten wie Ihre Kolleginnen?“
„Weil ich unter Garantie ohnmächtig würde, sollte er mich womöglich bemerken. Zum Glück weiß er nicht einmal, dass ich existiere.“ In Katies letzten Worten schwang hörbares Bedauern mit.
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