Verruchte Lady
Verlauf der letzten Stunde war sie immer nachdenklicher geworden. Genauso war es gestern abend gewesen, als sie vergeblich darauf gewartet hatten, daß Baxter auftauchte. Gabriel fragte sich, was sie wohl dachte.
Ein Teil von ihr würde ihm immer ein Rätsel bleiben. Vielleicht war es immer so zwischen Mann und Frau. Vielleicht war das Teil der Magie. Er wußte nur -, egal wie viele Male er Phoebe besaß, egal, wie oft er mit ihr lachte oder stritt - er würde niemals all ihre Geheimnisse lüften. Obwohl sie ihm voll und unwiderruflich gehörte, würde sie zugleich immer seine unwiderstehliche, faszinierende, berauschende verschleierte Lady bleiben.
Außerdem stellte er mit großer Zufriedenheit fest, daß er ihre ihm unbekannten Seiten durchaus genießen konnte, weil er ihr vertraute, wie er nie zuvor jemandem vertraut hatte. Sie würde ihn niemals verlassen.
Und so sollte es auch sein. Jeder Schriftsteller brauchte seine Muse. Phoebe war seine. Und außerdem war sie seine Verlegerin, was ihn viel mehr beunruhigte. Aber diese Tatsache würde zumindest für interessante Gespräche sorgen, dachte er mit einem flüchtigen Grinsen.
»Ich hoffe doch, daß du es nicht bedauerst, wenn uns dein Lancelot heute nacht in die Falle geht«, sagte er leise, um das lange Schweigen zu durchbrechen.
»Nein. Ich bin davon überzeugt, daß Neil mindestens so schlimm ist, wie du gesagt hast.«
»Mindestens?«
»Ich war schließlich nicht die einzige Frau, die er betrogen hat. Er hat Alice sehr grausam behandelt. Er hat sie dazu gebracht, ihm zu vertrauen, obgleich er niemals die Absicht hatte, sie aus ihrer Hölle zu retten.«
Gabriel wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Er dachte kurz an all die Männer, die fröhlich zahllose Frauen wie Alice ausgenutzt und dann in der Hölle eines Bordells zurückgelassen hatten. »Er war ein Meister der Illusion.«
»Nein, kein Meister«, sagte Phoebe langsam. »Ihm ist nicht alles gelungen, was er versucht hat. Er hat es nicht geschafft, meinen Vater zu täuschen. Und er hat es auch nicht geschafft, mich dazu zu bringen, ihn zu lieben, obgleich er sich alle Mühe gegeben hat. Und auch sein Piratendasein hatte schließlich ein Ende.«
»Am wichtigsten von allem ist, daß er dich glauben machen konnte, daß ich ein blutrünstiger Pirat bin, der es nur auf deine Erbschaft abgesehen hat«, murmelte Gabriel.
»Natürlich konnte er das nicht. Ich wußte immer, was für eine Art Mann du bist.« Sie warf ihm einen Blick über ihre Schulter zu. »Glaubst du, er wird heute nacht auftauchen, Gabriel? Letzte Nacht gab es nicht die geringste Spur von ihm.«
»Er weiß, daß er entweder heute oder morgen zuschlagen muß. Dem Gerücht zufolge, das wir in die Welt gesetzt haben, wird Die Lady im Turm übermorgen an einen reichen Sammler verkauft. Die drei Nächte, in denen das Buch in Laceys Buchladen liegt, sind Baxters einzige Chance.«
Vom Dach der geschlossenen Kutsche ertönte ein leises Klopfgeräusch. Gabriel stand auf und öffnete die Luke. Auf dem Kutschbock hockte Anthony. Er trug einen breitkrempigen Hut und einen schweren Umhang und imitierte täuschend echt einen dösenden Kutscher.
»Irgendwas von Baxter zu sehen?« fragte Gabriel leise.
»Nein, aber ich mache mir allmählich Sorgen wegen Stinton. Er sollte längst von seinem kleinen Ausflug in die Gasse zurück sein.«
Gabriel versuchte, in dem dichten Nebel irgend etwas zu erkennen. Er hatte den Detektiv losgeschickt, um die Gasse hinter dem Laden zu überprüfen. »Sie haben recht. Ich glaube, ich sehe besser einmal nach. Lassen Sie Phoebe nicht aus den Augen.«
»Warum binden Sie sie nicht einfach in der Kutsche an, um ganz sicherzugehen?« schlug Anthony trocken vor. »Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, wenn es ihr plötzlich in den Sinn kommt, nachzusehen, was los ist.«
»Das verbitte ich mir«, ertönte Phoebes Stimme hinter Gabriel. »Ich habe schließlich gesagt, daß ich eure Anweisungen befolgen werde.«
Gabriel fluchte leise. »Ihr werdet beide hier warten, während ich nach Stinton sehe.«
Phoebe berührte ihn leicht am Arm, als er die Tür der Kutsche aufstieß. »Sei vorsichtig, mein Lieber.«
»Das bin ich.« Er nahm ihre Hand, küßte sanft die zarte Haut ihres Handgelenks und stieg aus.
Sobald er auf der Straße war, eilte er hinüber in den Schatten des nächsten Gebäudes. Der Nebel war für ihn genauso von Vorteil wie für Baxter. Er glitt durch eine besonders dichte Schwade, um auf die
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