Verrückte Lust.
den Geist des Weihnachtsfestes gesagt habe: daß alle Menschen einander lieben sollten, und zwar nicht nur am Weihnachtstag, sondern auch an allen anderen Tagen des Jahres. Plötzlich wandte sie sich an ihren Bruder, sah ihn mit einem halb idiotischen, halb vorwurfsvollen Lächeln an und rief: »Du hättest heute morgen da sein sollen, Tony. Ich hab die ganze Zeit an dich gedacht. Wann bist du gestern abend ins Bett gegangen? Hast du einen Weihnachtsbaum gekauft? Unser Pfarrer ist ein wunderbarer Mann…«
»Das reicht!« sagte der alte Herr, und Babette verstummte sofort. Doch ihr Kopf rollte weiter von einer Seite zur anderen und sank dann plötzlich nach vorn.
Als sie aßen, wurde es draußen dunkel, und sie mußten die Kerzen des Weihnachtsbaums anzünden. Der Tisch war in ein unheimliches, scheinheiliges Licht getaucht. Vanya und Hildred ließen sich das Essen sichtlich schmecken und gaben nur ihrem Bedauern darüber Ausdruck, daß es keinen guten Rheinwein gab, um es hinunterzuspülen. Nach dem dritten Gang machte Hildred den Anfang und zündete sich eine Zigarette an; Vanya zog, zum allgemeinen Erstaunen, eine Packung Feinschnitt hervor und drehte sich eine Zigarette. Babette fühlte sich bemüßigt zu bemerken, daß echte Damen nie rauchten – sie jedenfalls rauche niemals –, worauf alle Anwesenden einschließlich ihrer Mutter lachten. Dieser spontane Ausbruch von Heiterkeit führte zu einem angeregten Gespräch. Sie redeten über die jüngsten Hochzeiten und Geburten in der Familie, beschrieben die schönen Beerdigungen, an denen sie teilgenommen hatten, diskutierten den Sinn und Nutzen der Prohibition, sprachen über den Preis für Truthähne, über die Verantwortung, die auf den Schultern des Präsidenten lastete, und über seine Reden, die sie im Radio gehört hatten, und sagten, daß der Prinz von Wales, ebenso wie General Pershing, ein schlechter Redner sei. Babette gelang es, ein oder zwei Bemerkungen über die segensreiche Arbeit der Kirche zu machen. Der alte Herr ließ sich über den traurigen Zustand der Wirtschaft aus. Schließlich wollten sie wissen, was für Bilder Vanya male und ob es Landschaftsbilder seien – denn Mutter gefielen die Kühe und Schafe, die oben im Salon hingen, nicht. Man erklärte Vanya, der alte Herr habe die Bilder einem Barmann abgekauft, als er einen sitzen gehabt habe, und er habe einen hübschen Preis dafür bezahlt. Mutter dachte, Vanyas Bilder könnten ihr vielleicht besser gefallen.
Hildred begann zu kichern.
»Ich glaube«, sagte Tony Bring und versuchte, seine Verlegenheit zu verbergen, »daß dir ihre Bilder nicht sehr gefallen würden, Mutter.«
»Warum? Sind sie nicht schön?«
»Doch, doch, sie sind schön… Aber es ist nicht die Art von Bildern, die dir gefallen würden.«
Der alte Herr unterbrach ihn. Er verstand sehr gut, was Tony meinte. Wahrscheinlich war Vanya eine moderne Künstlerin. Er wandte sich an seine Frau. »Du weißt doch – diese verrückten Sachen, die wir letztes Jahr bei ›Loeser‹ gesehen haben… So etwas malt sie vermutlich. Stimmt's, Tony?«
Der sah zu Vanya, die so freundlich war, bestätigend zu nicken. Der alte Herr war sehr zufrieden mit seinem kritischen Urteil.
»Alles ohne Sinn und Verstand, stimmt's?« fügte er hinzu.
»Genau, Vater«, ließ Hildred sich vernehmen. »Sie haben alle eine Schraube locker. Meine Freundin Vanya auch…« Mehr konnte sie nicht sagen, denn sie fand diesen Gedanken so erheiternd, daß sie hysterisch lachen mußte. Tony Bring verfluchte sie in Gedanken. Es war solch ein guter Witz, daß alle peinlich berührt waren. Er war äußerst erleichtert, als Vanya, die wie durch ein Wunder ein erstaunliches Taktgefühl an den Tag legte, das Gespräch auf ein anderes Thema lenkte. Das Leben im Westen! Ach, wie herrlich es war! Morgens, bei Sonnenaufgang, galoppierte man zu einem See, sprang in das eiskalte Wasser, kochte sich seine Mahlzeit im Freien über einem Holzfeuer… (Gott sei Dank sagte sie nichts über die Freikörperkultur!) Zufrieden mit der Wirkung, die ihre Geschichten hatten, erzählte Vanya weiter. Sie berichtete von ihren Reisen durch Mexiko und Mittelamerika und beschrieb mit leicht verwirrenden Worten die Kunst und die Gebräuche in diesen weit entfernten Ländern.
»Aber hatten Sie nicht Angst, so ganz allein herumzureisen?« Es war Tony Brings Mutter, die diese Frage stellte.
Sogleich ergriff sein Vater das Wort. »Was?« rief er. »Sie und Angst?
Weitere Kostenlose Bücher