Verschärftes Verhör
sechsstündigen Zwischenstopps auf dem Flughafen JFK zu treffen. Sie war auf dem Weg nach Paris. Sie hatten einander nie besonders nahegestanden, da Max sechs Jahre jünger war und aus der dritten Ehe ihrer Mutter stammte. Normalerweise hätte sie ihn gar nicht angerufen, doch vor einem Monat hatte ihre Mutter verkündet, sie wolle sich zum fünften Mal scheiden lassen. Als Max ihr eine E-Mail schickte, weil er offenkundig mit ihr reden wollte, schlug sie dieses Treffen vor.
Sie verabredeten sich in einem griechischen Restaurant in Brooklyn, auf halbem Weg zwischen Flughafen und Innenstadt. Es war ein Nachmittag mitten in der Woche, und Max hatte früher Feierabend gemacht. Damals hatte er noch nicht die Stelle im World Trade Center, sondern einen Zeitarbeitsvertrag in einem Büro in Midtown. Er habe eine Freundin und verdiene genügend Geld, um die Rechnungen zu bezahlen, wie er sagte.
Kat wollte sich für ihn freuen und sagte ihm das auch, doch etwas in ihr, ein gemeiner Zug, hasste die Mühelosigkeit, mit der er durchs Leben steuerte. Der Zufall spielte dabei eine Rolle, denn sein Vater hatte Geld und ihrer nicht. Sie selbst hatte ihr Collegestudium mit Stipendien und Teilzeitjobs finanziert, während Max nie irgendein Darlehen gebraucht hatte. Dennoch verströmte er eine zwanglose Leichtigkeit, die nichts mit Reichtum zu tun hatte und die sie ihm nie verzeihen konnte.
»Und, was machst du in Paris?«, fragte er endlich und fügte hinzu: »Ach, ich hatte vergessen, es ist deine erste Auslandsreise, oder?«
»Ich bin endlich zur Reserve herabgestuft«, erwiderte sie, wohl wissend, dass Max nach dem College ein ganzes Jahr im Ausland verbracht hatte. »Da wollte ich ein bisschen reisen. Unterwegs vielleicht unterrichten.«
»Wirst du die ganze Zeit in Europa bleiben?«
»Nein, ich hatte auch an Nordafrika, Ägypten, die Türkei gedacht. Wer weiß?« Ihre Dissertation war endlich fertig, die Tretmühle der Wochenend- und Sommerreservedienste lag hinter ihr. Kat hoffte, endlich die Welt kennenzulernen, in die sie sich aus der Ferne verliebt hatte.
»Du hast dir viel vorgenommen«, sagte Max. »Ein Freund von mir hat eine Sprachschule in Kairo. Wir kennen uns aus Essaouira. Da ist es wunderschön, du solltest unbedingt hinfahren. Wenn du willst, kann ich dir seine Adresse geben. Er hätte sicher Arbeit für dich.«
Kat zuckte die Achseln. Max wollte hilfsbereit sein, doch sie fand sein Angebot gönnerhaft. »Natürlich. Gern.«
Als sie schließlich die Scheidung ansprachen, verteidigte Kat ihre Mutter aus Prinzip, weil sie es ihrem Bruder irgendwie heimzahlen wollte.
»Nicht jeder hat es so leicht wie du«, war ihre brutale Erwiderung, nachdem er seine Sorge geäußert hatte.
Max hatte nicht darauf geantwortet, und sie verabschiedeten sich bald voneinander. Kat bestand darauf, zum Flughafen zurückzukehren, obwohl sie noch zwei Stunden Zeit hatte. Sie hatten sich nicht umarmt, wie Geschwister es tun, selbst wenn sie manchmal streiten, sondern einander lediglich die Hand gegeben. Dann war Kat ins Taxi gestiegen und hatte ihren Bruder allein vor dem Restaurant zurückgelassen. Er sah ungewöhnlich verlegen aus.
Der Kommandant der Kadetten schüttelte Kat die Hand und verbeugte sich steif. Eine der vielen Verpflichtungen, die die Trauer mit sich brachte und denen sie sich unterziehen musste. Sie nickte feierlich, wie man es von ihr erwartete, und sah dem Mann nach, der sich umdrehte und nach vorn in die Kapelle schritt.
Von den Wänden schauten die Toten und Sterbenden auf sie herunter. Die Gesichter junger Männer in der Schlacht, für immer auf Leinwand gebannt. Wunden in grellem Karminrot, die hundert Jahre alten Pinselstriche des Künstlers waren noch immer deutlich zu erkennen, die Gewalt, mit der er die Szene gemalt hatte.
Während des Bürgerkriegs war das Kadettencorps der Akademie einer schwer dezimierten Einheit der Konföderierten zu Hilfe gekommen und hatte eine bedeutende Schlacht gegen die Unionstruppen gewonnen. Etwa fünfzig junge Männer waren im Kampf gefallen und mit einem dauerhaften Wohnsitz in der Ruhmeshalle der Akademie belohnt worden. Der Mythos der Schlacht wurde bei jeder größeren Veranstaltung heraufbeschworen. Jedes Jahr wurden an ihrem Todestag die Namen der Kadetten beim Appell verlesen und der Tisch in der Messe für sie gedeckt.
Der Kommandant trat auf die Kanzel und begann mit der kurzen Zeremonie zum Gedenken an die Opfer des 11. September. Dann predigte der Kaplan
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