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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
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horchte auf ihren schlurfenden Schritt, goss sich eine Tasse Kaffee ein und ging nach oben ins Büro. Der erste Stock gehörte ihm inzwischen allein. Susan konnte die Treppe nicht bewältigen, und Marina wollte es nicht, da sie von Anfang an klargestellt hatte, dass sie sich ausschließlich um Susan kümmern werde. Einmal hatte Morrow den Fehler begangen, ein schmutziges Hemd in Susans Wäsche zu geben, worauf Marina ihn eine ganze Woche lang ignoriert hatte.
    Für eine Tüte Zucker oder eine Wochenration Toilettenpapier hätte sie ihre eigene Mutter beim NKWD angezeigt, hatte er damals gedacht. Ja, Genosse. Die Frau ist eine Verräterin, Genosse. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.
    Morrow schaute auf die Uhr und wählte Peter Jansons Privatnummer in McLean.
    »Hi, Dick.« Jansons Frau Anne antwortete, bevor er etwas sagen konnte.
    Das Wunder der Anrufererkennung, dachte Morrow bei sich, das Jahrzehnte des Misstrauens beendete. Eine weitere Schlacht, die Susan gewonnen hatte. Herrgott nochmal, Dick, ich möchte zur Abwechslung mal wie ein normaler Mensch leben.
    »Guten Morgen, Anne. Ist Pete noch da?«
    Er hörte sie rufen: »Pete! Es ist Dick Morrow.« Sie kam wieder an den Apparat. »Wie geht es Susan?«
    »Mal so, mal so. Es gibt auch gute Tage«, log er.
    »Ich wollte schon längst vorbeikommen«, sagte Anne.
    Schweigen, dann wurde er von Jansons Stimme erlöst. »Ich nehme das Gespräch hier oben an, Anne.«
    »Bestell Susan bitte Grüße von mir«, sagte Anne eilig.
    Morrow horchte, bis ein Klicken verriet, dass sie eingehängt hatte. Zur Sicherheit wartete er noch einen Moment. »Habt ihr von dem Jungen gehört?«, fragte er schließlich.
    »Nicht seit Andrews und Damien ihn verloren haben. Sie sind ziemlich sicher, dass er abgehauen ist. Sieht aus, als hätte er ein paar Sachen aus seinem Zimmer geholt.«
    »Irgendeine Idee, wohin er abgehauen ist?«
    »Überall und nirgendwohin. Er ist ein kluger Junge. In Madrid wird er nicht bleiben. Ich könnte mir vorstellen, dass er nach Hause will.«
    »Nach Marokko?«, fragte Morrow skeptisch. Der Junge war seit über vier Jahren nicht in seiner Heimat gewesen, wo ihn nichts und niemand erwartete.
    »Dick, er hat Angst. Und es ist nicht weit.«
    »Sonst noch etwas über Bagheri?«
    »Nichts.« Janson schwieg einen Moment. »Ich habe mir mal die Akte des Jungen angeschaut. Es gibt da eine Frau. Eine der Verhörspezialistinnen aus Bagram. Die beiden standen sich offenbar nahe.«
    »CIA?«
    »Armee«, antwortete Janson. »Sie lehrt Arabisch an der Militärakademie im Shenandoah Valley.«
    »Ist sie pensioniert?«
    »Reserve. Also gehört sie technisch gesehen noch zu uns.« Dann fügte er hinzu, als hätte er Morrows nächste Frage vorausgeahnt: »Ich habe ein gutes Gefühl bei ihr, Dick.«
    »Ich nicht. Wir müssen sie im Auge behalten, falls sie den Jungen tatsächlich finden sollte.«
    »Andrews und Damien sind noch in Madrid.«
    Morrow überlegte kurz. »Hat der Junge die beiden gesehen?«
    »Andrews schon. Bei Damien bin ich mir nicht sicher.«
    »Nein, wir nehmen lieber Kurtz. In London dürfte doch alles geklärt sein.«
    »Womöglich kennen sich die beiden«, gab Janson zu bedenken. »Aus Bagram.«
    Morrow dachte nach. Die Idee hatte ihm von Anfang an nicht gefallen. Andererseits hatte Kurtz ebenso viel zu verlieren wie sie alle. Mehr sogar. »Fax mir alles, was du über die Frau hast. Ich fahre noch heute Morgen zu ihr.«

 
Marokko, September 2001
    Ich habe mich zehn Jahre lang auf diesen Augenblick vorbereitet, dachte Kat, als sie vor Angst wie gelähmt am Fähranleger in Tanger stand. Zehn Jahre Studium, und nun, da sie endlich an diesem Ort war, wäre sie am liebsten davongelaufen. Sie hatte sich Marokko, Afrika und den Islam ganz anders vorgestellt, durch lange Kolonialherrschaft zu angenehmer und ungefährlicher Exotik abgemildert. Formlose Frauen in schwarzem Tschador, schmutzige Kinder, die einen nicht in Ruhe ließen, die furchterregenden Männer, die ihr mit gierigen Blicken Hilfe anboten – darauf war sie nicht vorbereitet.
    Europa. Nordafrika. Ägypten. Türkei, hörte sie sich sagen. Wer weiß?
    An jenem ersten Abend hatte sie sich dankbar in ein Touristenhotel in der ville nouvelle fahren lassen, vorbei an der schäbigen Medina, den afrikanischen Prostituierten, die vor dem Bab el-Marsa lärmten, und den Massen der kindlichen Bettler am Hafeneingang. Sie schämte sich ihrer eigenen Schwäche und schrak vor dem Schmutz und der Verzweiflung

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