Verschärftes Verhör
kurz geschnitten, der Ziegenbart säuberlich gestutzt. Auf seiner Nase balancierte eine filigrane Nickelbrille.
»Mustafa?«, fragte Harry und staunte, wie gnädig die Zeit mit seinem alten Bekannten umgegangen war.
Der Mann trat vor und streckte die tintengeschwärzte Hand aus. »Mustafa, der Sohn«, sagte er. Sein Griff war fest, sein Englisch sehr gut, mit einem Hauch von britischer Privatschule. Dann gab er Kat die Hand. »Sie suchen sicher meinen Vater.«
»Ja«, antwortete Harry. Ihm fiel ein, dass er den jüngeren Mann schon bei früheren Besuchen gesehen hatte. »Ist er da?«
Mustafa, der Sohn, schüttelte feierlich den Kopf. »Mein Vater weilt nicht mehr unter uns, subhan’allah.« Er schaute Harry über seine Brille hinweg an. »Ich kann mich an Sie erinnern. Sie sind der Amerikaner. Mr …?«
Doch Harry nannte seinen Namen nicht. »Mein Beileid zu Ihrem Verlust.«
Mustafa verneigte sich leicht. »Vielen Dank. Aber Sie sind nicht nur gekommen, um mir zu kondolieren. Mein Vater mag nicht mehr unter uns weilen, aber ich versichere Ihnen, dass sein Geschäft genauso weitergeführt wird. Ich nehme an, Sie benötigen etwas für die Dame.«
»Einen Pass. Vorzugsweise in englischer Sprache. Es sollten einige Reisen darin verzeichnet sein: EU, Asien, nichts Verdächtiges. Einreisestempel aus Tanger.«
Mustafa nickte. »Das lässt sich machen.«
»Wie schnell?«
»Eine Woche, fünftausend Euro.« Er wischte sich die Hände an der Schürze ab, wo sie zwei dunkle Streifen hinterließen.
»Tausend, und wir bekommen ihn heute Nachmittag.«
Mustafa zuckte zusammen. »Sie wissen, das ist unmöglich.«
»Zweitausend.«
»Drei, und Sie bekommen das Dokument heute Abend um sechs.«
»Also drei«, stimmte Harry zu.
Mustafa lächelte Kat an. Es war das Lächeln eines Gauners, unterwürfig und gierig zugleich. »Wir brauchen noch ein Foto.«
Jamal öffnete die Tür vom Hotel des Amis und betrachtete prüfend die schmale Straße, bevor er in den langsam dahinfließenden Menschenstrom glitt. Es war fast Mittag, Kat hätte längst zurück sein müssen, und er war zu hungrig, um länger zu warten. Also machte er sich auf die Suche nach dem Essensstand, den er vom Hotelfenster aus gesehen und gerochen hatte.
Zwanzig Meter, sagte er sich, als ihm Mr Harrys Warnung einfiel. Was konnte auf dem kurzen Stück schon passieren? Das hier war immerhin seine Heimatstadt, seine Wiege, und wenn es das Schicksal wollte, auch sein Grab. Er hatte bereits entschieden, dass er nicht mehr fortgehen würde, was immer auch geschehen mochte.
Ziel! Ziel! Hinter ihm erklang der Ruf eines Eseltreibers. Die Menge drängte sich noch enger zusammen, um das Tier vorbeizulassen. Es waren Körper wie seiner, dachte Jamal und staunte über das ungewohnte Gefühl der Zusammengehörigkeit. Wie seltsam, so wenige europäische Gesichter zu sehen.
Er erreichte den kleinen Essensstand und blieb stehen, wie gebannt von der Auswahl. Er konnte sich nicht zwischen den weichen Sfenj und den flockigen Rghaif entscheiden, die heiß aus der Friteuse kamen und in Honig und Butter getränkt waren. Dann gab es die zarten Halbmonde der Gazellenhörner mit ihrer dicken Schicht aus Zuckerguss. Gierig nahm er von jedem eins und stopfte sich die halbmondförmige Leckerei in den Mund, während der Verkäufer den Rest in eine Papiertüte packte.
Nachdem er den ersten Hunger gestillt hatte, bezahlte er und ließ sich von der Menge zurück zum Hotel treiben. Keine zwanzig Meter. Und er war schon fast zurück. Dann entdeckte er ein bekanntes Gesicht, das ihm entgegenkam.
Mahjoub, dachte er, Adils Freund aus Ain Chock. Jamal duckte sich, doch es war schon zu spät. Als er sich zur Hoteltür durchkämpfte, schaute er noch einmal zurück und bemerkte, dass der junge Mann stehen geblieben war und ihm nachsah.
In den ersten Augenblicken nach dem Aufwachen glaubte Manar, sie sei wieder im Gefängnis. Ihre Kehle fühlte sich wund an, als hätte man etwas gewaltsam hineingeschoben und wieder herausgezogen. Brust und Bauch waren schmerzempfindlich, und sie lag mit dem Rücken unbequem auf kalten Fliesen.
Vielleicht, dachte sie erleichtert, hatte es die letzten Jahre gar nicht gegeben. Vielleicht war es nur ein langer Traum gewesen. Die Erinnerung, die Gestalt angenommen hatte. Sie hatte die Wüste gar nicht verlassen, hatte nicht den Schmerz enttäuschter Hoffnung erfahren.
Dann hörte sie eine Stimme. »Schwester? Wach auf, Schwester!« Eine warme Handfläche auf
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