Verschärftes Verhör
hatte. Sie hatte sie heimlich gehortet.
Ihre Entscheidung, die Tabletten zu behalten, war eher instinktiv gewesen. Sie hatte sich nicht bewusst eine Situation ausgemalt, in der sie sich das Leben nehmen musste. Die Jahre im Gefängnis hatten sie jedoch gelehrt, dass man jederzeit in eine absolut verzweifelte Lage geraten konnte, in der man für einen solchen Ausweg dankbar war.
In ihrer Eile, die Tabletten zu finden, stieß Manar einen Karton herunter. Ein Sturzbach aus Fotos prasselte auf den Boden. Sie stammten aus den letzten Jahren vor ihrer Verhaftung, Schnappschüsse mit ihren Schulfreundinnen, Yusuf und andere aus der Studentengruppe. Manar kniete sich hin und schob die Fotos wieder in den Karton. Sie schämte sich für die lächerlichen Versammlungen im Keller der Moschee, ihre ernsthaften Reden, die Vorstellung, sie könnten für jene eintreten, die nichts besaßen, könnten deren Leben und deren Verzweiflung auch nur ansatzweise verstehen. Der Gedanke, jemand könne die Fotos nach ihrem Tod finden, entsetzte sie.
Sie spielte mit dem Gedanken, sie wegzuwerfen, hätte es aber als Niederlage empfunden. Also stellte sie den Karton zurück in den Schrank. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten.
Schließlich fand sie den Schuhkarton in der äußersten rechten Ecke. Er war mit Staub überzogen, die Tabletten unberührt. Ihr Staub, dachte sie, als sie den Karton zu ihrem Bett trug. Sie versuchte, ihre zitternden Hände ruhig zu halten. Der Staub war ihre Haut, der Schorf ihres Körpers, feiner als Sand.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der Manar den Tod fürchtete, doch das war längst vorbei. Sie hatte so lange in seiner Nähe gelebt, hatte sich ihm nahezu unterworfen und letztlich verstanden, dass die Angst völlig sinnlos war. Man war nie bereit für das Ende.
Sie glaubte nicht an die Strafen der Hölle oder den Lohn im Paradies. Im Gegenteil, es war ihr absoluter Unglaube, der sie so handeln ließ. Für einen gläubigen Menschen wäre die Tat undenkbar gewesen, der allergrößte Verrat, die eine Sünde, an der alle anderen gemessen wurden, der Fehltritt, der sie endgültig von ihrem Gott geschieden hätte. Aber sie war nicht gläubig.
Dennoch musste sie sich dazu zwingen, den Karton zu öffnen, die Flasche auf die Kommode zu stellen und die Tabletten einzeln herauszuschütteln, bis es genug waren.
28
»Fajr«, bemerkte Harry und wandte den Kopf zum offenen Fenster. Der Muezzin rief zum ersten Gebet des Tages. »Ich wusste gar nicht, dass es schon so spät ist.«
»So früh, meinen Sie«, korrigierte ihn Kat.
Er nickte. »Ja, das auch.« Sein Gesicht mit den grauen Bartstoppeln sah unglaublich alt aus, hoffnungslos verschlissen.
Ein Mann, den der Kummer völlig nackt machte, hatte Kat im ersten Augenblick gedacht. Darum vertraute sie ihm ganz und gar.
Kat hatte den größten Teil der Nacht genutzt, um Harry ihr Dilemma zu erklären. Sie berichtete, wie der Tod des Gefangenen in Bagram ihr Misstrauen geweckt hatte, wie Bagheri geflohen war, welche Rolle Kurtz in al-Amir gespielt und wie Jamal das MEK-Lager beschrieben hatte.
»Ich kann Ihnen versichern«, erklärte Harry, »dass es in Afghanistan keine MEK-Lager gibt. Sie haben selbst gesagt, dass Jamal den Leuten gerne das erzählt, was sie hören wollen. Vielleicht ist die Geschichte viel einfacher, als Sie glauben möchten.«
»Was soll das heißen?«
Harry antwortete mit einem Achselzucken. »Angenommen, Ihre britischen Freunde waren bei der Befragung ein bisschen übereifrig und haben den Gefangenen versehentlich getötet. Angenommen, sie haben Bagheri zur Flucht verholfen, damit er sie nicht belasten konnte.«
»Warum haben sie dann nicht einfach Bagheri getötet? Das wäre viel einfacher und sicherer gewesen.«
»Es ist durchaus denkbar, dass sie es getan haben.«
Kat wollte sich nicht auf diese Theorie einlassen. »Alles, was Bagheri Jamal erzählt hat, deutet darauf hin, dass es ein Lager der MEK ist. Ich meine, die Sache mit den Frauen. Es gibt keine andere Erklärung. Und was ist mit Morrow und Kurtz? Mit dem Militärgerichtsverfahren? Mit Colin und Stuart? Erzählen Sie mir nicht, die beiden seien zufällig gestorben.«
»Lügen wollen und es tatsächlich tun, ist zweierlei. Angenommen, sie bekamen plötzlich ein schlechtes Gewissen und drohten damit, die ganze Sache öffentlich zu machen. Oder sie haben gehört, dass Bagheri wieder aufgetaucht ist, und wollten aus Angst die Wahrheit sagen. Viele Leute, Morrow
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