Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
Bart. Hatte sie aufgesucht in ihrem kleinen Zimmer mit den roten Wänden
und ihr gesagt, dass ihre Tochter angekommen war.
Doudou!
Ihre Tochter!
Ihr Leben. Alles, was sie noch hatte! Endlich! Dann hatte sich alles gelohnt, all
die Qualen, die Jahre in der Hölle. Sie war frei, und ihre Tochter war gekommen.
Ihre Tochter Doudou, die sie vor fast vier Jahren in ihrer Heimat zurückgelassen
hatte, um sie nachzuholen, sobald sie das Paradies erreicht hätte.
Doch dann
hatte der Schwarzbart gegrinst. Gelacht. Sie verhöhnt. Wir könnten deine Tochter
auch selbst für uns arbeiten lassen, hatte er gesagt, ein junger Körper verkauft
sich gut. Aber du bist auch tüchtig, und die Freier stehen auf dich. Warum sollen
wir dir verbieten, das Geld für deine Tochter zu verdienen? Wenn du dich ranhältst,
kann auch sie in ein paar Monaten frei sein!
Die Tränen
waren zurückgekehrt und mit ihnen die Schatten auf ihrem Gesicht. Schatten, die
sie in zwei Jahren mehr altern ließen, als die 25 Jahre, die sie in Afrika verbracht
hatte. Sie hatte geweint und den Schmerz hinausgeschrieen, hatte um sich geschlagen
und sich die Arme blutig gekratzt, bis sie kamen und sie in ihrem Zimmer auf das
Bett banden.
Dann hatte
sie den Entschluss gefasst. War zurückgekehrt. Heimlich. An den Ort, an dem sie
vor zwei Jahren in Deutschland gestrandet war.
Verschleppt.
Ich nenne
sie Hadé.
Dies ist
ein Teil ihrer Geschichte …
1
Der Nebel hatte den See seit Tagen
fest im Griff.
Für die
Menschen hier war das nichts Ungewöhnliches. Man brauchte oft nur wenige Kilometer
zu fahren, ins nahe Linzgau oder auf einen der Vulkanberge des Hegau, und man sah
die Nebelbänke unter sich, während von oben die Frühlingssonne vom wolkenlosen Himmel
schien. Doch der Nebel gab dem See sein ganz eigenes Gesicht, fand Lene Grandel.
Die alte
Frau liebte die Nebelmonate. Dann hatte sie den See für sich. Die Touristen blieben
fern, und außer ihr verirrte sich kaum ein Mensch ins Ried oder zu den Beobachtungsplattformen
am Ufer. Höchstens die Praktikanten vom BUND, die unterwegs waren, um Vögel zu zählen
oder Wege auszubessern. Oder einer der Ornithologen von Euronatur, der sich auf
die Suche nach einem der seltenen Wintergäste machte, Brandgans oder Lappentaucher.
Meist jedoch
war sie allein. So wie am Morgen dieses Tages, als sie zwei Stunden lang die Singschwäne
– Überwinterer aus dem hohen Norden – von der Ruine am Reichenaudamm aus beobachtet
hatte. Allein. Der See spiegelglatt und eisgrau, die Schilfflächen wie bizarre starre
Wände aus dem trockenen Uferschlick aufragend, darüber wie ein feiner Schleier der
Nebel, aus dem die schlanken Hälse und weißen Köpfe der Singschwäne ragten, wenn
sie ihre Nahrungssuche unter Wasser unterbrachen und ihnen kalte Tropfen von den
gelben Schnäbeln trieften. Ihr Spektiv – ein Fernrohr mit 75-facher Vergrößerung
– zeigte jedes Detail der prächtigen Vögel, und sie hielt immer wieder den Atem
an, wenn die Vögel mit majestätischen Bewegungen durch das Bild zogen.
Jetzt, am
Abend, war sie wieder allein. Der Nebel war am Tag landeinwärts gewabert, hatte
sich in den Buchen und Lärchen des Waldes verfangen, und machte den Schiener Berg
zu einem Geisterwald. Außerdem war es kalt geworden.
Sie beeilte
sich, denn sie wusste nicht, wie lange sie Zeit hatte, um ihren Plan umzusetzen.
Der Mann, auf den sie in dem unzugänglichen Waldstück gewartet hatte, war noch nicht
gekommen, und sie machte sich allein daran, den Zaun durchzuschneiden. Die Drahtschere
gehorchte ihren klammen Fingern, bald war das Loch groß genug; sie schlüpfte hindurch
und sah in der Dämmerung nicht die Fußspuren, die sie in der feuchten Erde hinterließ.
Die Wand
des Containers schimmerte hell zwischen den kahlen Zweigen der jungen Buchen, und
sie verharrte kurz, als sie das Geräusch hinter sich wahrnahm. Wahrscheinlich Jakob.
Hatte er den Weg also doch noch gefunden. Sie war sich nicht sicher, ob es richtig
gewesen war, ihn einzuweihen. Doch wie sollte sie es allein schaffen?
Da! Erneut
das Geräusch.
Konnte es
jemand anderes sein? Einer vom Kieswerk? Oder die Frau, die sie vor zwei Tagen hier
gesehen hatte? Auf einmal war sie unsicher, ob es richtig war, was sie vorhatte.
Warum informierte sie nicht einfach die Polizei? Nein! Das kam nicht in Frage.
Sie dachte
an das Geld, das Monat für Monat auf ihrem Konto in der Schweiz gelandet war. Doch
jetzt hatte sie genug. Das Spiel war ausgereizt. Sie hatte hoch
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