Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
genug gepokert,
und gesehen, dass der andere sogar bereit war, eine sechsstellige Summe für die
Bewahrung seines Geheimnisses zu bezahlen. Das Leben Unschuldiger war mehr wert,
und darum hatte sie die Aktion geplant. Aber wo blieb Jakob? Ohne ihn hatte sie
keine Chance.
Fand er
den Weg nicht? Sie hatte ihn doch so genau beschrieben. Vorbei an den Kieshalden,
den Fuhrweg um den Baggersee herum und auf den breiten Kiesweg, der bergauf in den
Wald hinein führte und wie ein Hohlweg in die enge Schlucht mündete. An der Schranke
vor der Lichtung wollten sie sich treffen. Vor einer halben Stunde.
Wieder dieses
Rascheln. Schritte? Jakob? Nein! Vor ihr! Plötzlich, wie aus dem Waldschatten gewachsen,
eine nachtschwarze Gestalt. Sie blickte in das erstarrte Gesicht, stieß einen Schrei
aus, und das Letzte, was sie sah, war der lange Gegenstand, der auf sie niederfuhr.
Mit ungebremster Wucht zertrümmerte das Brecheisen ihre Schädeldecke.
Der Mann
hatte gerade die Drahtschere, die am Zaun lag, aufgehoben und eingesteckt, als er
den Schrei hörte. Gleich darauf noch einer, dann sah er schemenhaft die Gestalt,
doch das dichte Gestrüpp und der Nebel verhinderten, dass er mehr erkannte. Als
er das Motorrad aufjaulen hörte, verschwand er so schnell er konnte auf dem schmalen
Pfad, den er gekommen war.
2
Die Sonne beleuchtete die Ruine
des Hohenkrähen, drüben über der Autobahn Richtung Schaffhausen ragte wie ein Mahnmal
der Urzeit der Vulkankegel des Hohentwiel in den Himmel, und das Sonnenlicht tauchte
die alten Festungsmauern in ein gleißendes Gold. Wie ein mattgrauer Spiegel lag
der Bodensee in der Ferne mit den beiden Fingern des Untersees, dem Gnadensee und
dem Zeller See, dahinter die Halbinsel Höri, deren waldiger Höhenzug in nebligem
Grau schimmerte.
Dort unten
lag Gaienholzen, ein altes alemannisches Dorf mit leuchtendem Fachwerk, alten Höfen,
einer romanischen Kapelle und einem lebendigen Ortskern mit Marktplatz und Narrenbrunnen
in seiner Mitte. Am Dorfrand, Richtung Schiener Berg, wo die Eisdecke des altes
Baggersees schon wieder aufgetaut war, zogen sich Streuobstwiesen an den sanften
Hängen entlang, Schottische Hochlandrinder weideten auch im Winterhalbjahr auf den
satten Wiesen, und in der Neubausiedlung hatten sich Anwälte aus Radolfzell und
Professoren aus Konstanz ihre Eigenheime nach den Plänen moderner Architekten errichten
lassen.
Oberhalb
des Baggersees, gegenüber dem Kieswerk, lagen an einer Nebenstraße am Ortsrand eine
Handvoll Häuser. Im Garten des letzten, das auch das älteste in der Straße zu sein
schien, kauerte ein Mann neben einer regungslos am Boden ausgestreckten Frau.
Die Frau
sah erstaunlich gut aus für ihr Alter, auch als Leiche, dachte der Mann. Die hellblond
getönte Frisur schimmerte nur am Haaransatz leicht silbern, und die Falten im Gesicht
waren durch dezentes Make-up geschickt kaschiert. Blassroter Lippenstift betonte
die Linien des im letzten Atemzug leicht geöffneten Mundes, auf den Lidern lag das
schwache Glitzern eines verblassenden Schattens, und die Linien der schmalen Augenbrauen
waren leicht nachgezogen worden.
Er wusste,
dass er das leuchtende Blau ihrer lachenden Augen nie mehr sehen, ihre näselnde
Stimme nie mehr hören würde. Auch wenn sie vor ihm lag, als ob sie nur schliefe,
die Lene war tot.
Das verriet
nicht nur das Blut an ihrem Kopf, sondern auch die gekrümmte Haltung ihres Körpers
und das fehlende Senken und Heben ihres Brustkorbs. Er hatte seine Nase und sein
Ohr über ihren Mund gehalten, um den Atemhauch zu spüren, seine Finger hatten an
ihrem Hals nach dem Puls getastet, dann hatte er sie für tot erklärt.
Die Lene
war alt gewesen, gewiss. Aber zu jung, um zu sterben. Und dass er sie hier in ihrem
eigenen Garten fand, war für ihn mehr als fragwürdig. Er nahm noch einen Schluck
aus der Flasche, ging zu seiner Vespa am Gartenzaun und steckte die Pulle wieder
in die Satteltasche. Dann kehrte er zu Lene zurück. Der rote Wein war einer seiner
besten Freunde und half ihm auch über den seltsamen Tod der alten Frau hinweg.
Auch er
war alt, immerhin 68, doch sein vernachlässigtes Äußeres trug dazu bei, dass er
um Jahre älter wirkte. Die graue Haut seines Gesichts schien trocken und ledrig,
tiefe Falten gruben sich wie Furchen in seine Wangen, die Backenknochen traten kantig
hervor, dicke Tränensäcke hingen unter den tief in ihren Höhlen liegenden Augen.
Bart und Haaren sah man an, dass sie seit Tagen kein Wasser abbekommen
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