Verschollen am Mount McKinley - Alaska Wilderness ; 1
um ihr wieder die volle Sicht zu ermöglichen. Zum Glück hielt sich das Schneetreiben noch im Rahmen.
In der Innenstadt blickte sie an dem klobigen Bau des Fairbanks Memorial Hospitals empor. Die Fenster der Operationssäle waren hell erleuchtet, und wenn ihr Vater heute Nachtdienst hatte, beugte er sich bestimmt gerade über einen Patienten. Sie hatte sich schon vor zwei Tagen von ihm verabschiedet. In der Cafeteria des Krankenhauses hatte er sie zu einem Cappuccino eingeladen und ihr einen Schein zugesteckt, dann war er gleich wieder verschwunden, eine wichtige Operation, bei der es wie immer um Leben und Tod ging. Ihr Vater neigte zur Theatralik, wenn er über seinen Beruf berichtete. »Mach deinem Vater keinen Kummer«, sagte er zum Abschied, »pass auf dich auf!«
Ihr Vater hatte es noch nie verstanden, Gefühle zu zeigen. Vielleicht ein Grund dafür, dass Julies Mutter davongelaufen war. »In unserem Beruf musst du dich abgrenzen können«, hatte er schon mehrmals gesagt, »wenn du dich zu sehr auf deine Patienten einlässt, hast du schon verloren. So viel Schmerz könntest du nicht ertragen.« Leider übertrug er diesen Leitspruch auch auf sein Privatleben. Er brachte es nicht fertig, seine Gefühle zu zeigen, und schreckte sogar davor zurück, sie zu umarmen, obwohl er sie mehr als alles andere liebte. Nicht nur auf seinem Schreibtisch stand ihr Foto, er trug sogar eines in seinem Arztkittel spazieren. »Du bringst mir Glück«, sagte er.
Eine der wenigen Ampeln, die auch um diese Zeit eingeschaltet waren, sprang auf Rot und zwang sie anzuhalten. Sie ließ ihren Blick über die Straße wandern. Gegenüber lag eine der größten Tankstellen der Stadt, ein hell beleuchteter Flachbau mit vier überdachten Fahrspuren und einem Lokal, vor dem mehrere Trucks parkten. Doch sie hatte nur Augen für den jungen Mann im gelben Parka, der aus einem Pick-up wie ihrem stieg und seinen Wagen betankte. »Das ist Josh!«, flüsterte sie überrascht. »Was macht der denn hier?«
Sie wechselte die Fahrspur, um an der nächsten Kreuzung umdrehen und zu ihm fahren zu können, und war bereits dabei, das Fenster herunterzulassen, als die Beifahrertür seines Wagens aufsprang, und eine junge Lady in einer modischen Pelzjacke ausstieg. Unter der Jacke schaute ein rotes Kleid hervor. Sie trug pelzbesetzte Stiefel und lief geduckt durch das leichte Schneetreiben zum Tankstellengebäude, wahrscheinlich, um dort die Toilette zu benutzen.
»Ach nee!«, flüsterte sie. »Mich zur Pizza einladen, und kaum spure ich nicht so, wie du willst, hast du schon eine andere an der Angel!« Sie ließ wütend das Fenster hoch. »Wer ist das? Die Beautyqueen vom College?«
Sie duckte sich rasch, als Josh in ihre Richtung blickte, und spähte vorsichtig über das Lenkrad hinweg. Im hellen Licht der Tankstelle war sein Gesicht deutlich zu sehen. Es war Josh, daran gab es keinen Zweifel! Der Mistkerl hatte sich eine andere gesucht, eine aufgedonnerte Tussi, und mit ihr gleich die halbe Nacht durchgefeiert. Sein gutes Recht, wenn man es nüchtern sah, immerhin hatte sie ihn abblitzen lassen, aber einen besonderen Eindruck schien sie nicht auf ihn gemacht zu haben, sonst hätte er bestimmt anders gehandelt.
Die Ampel schaltete auf Grün, und sie machte, dass sie weiterkam. Im Seitenspiegel beobachtete sie, wie Josh auf die verlassene Straße lief und ihr nachblickte. Vor lauter Schreck verriss sie das Steuer und geriet ins Schleudern, prallte mit dem linken Vorderrad gegen den Bordstein und konnte von Glück sagen, dass sie allein auf der Straße war und ihr kein anderer Wagen entgegenkam. Nur mühsam bekam sie ihren Pick-up wieder unter Kontrolle und fuhr langsam weiter, den jungen Mann noch immer im Spiegel.
Als die Straße einen Bogen machte und er aus ihrem Blickfeld verschwand, atmete sie erleichtert auf. Sie beschleunigte vorsichtig und bog auf den Highway nach Süden, die Straße, die zum Denali National Park und dann weiter nach Anchorage führte. Gegen ihre Angewohnheit stellte sie das Radio an und schaltete auch nicht ab, als einer dieser unsäglichen Top-40-Hits erklang, der ihr schon seit einigen Wochen auf die Nerven ging. Immer wenn sie das Radio einschaltete oder in einen Raum kam, in dem ein Radio lief, war dieser Song zu hören: der erste Hit eines »American Idol«-Gewinners. Genau das Richtige, um ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Auf dem Highway war etwas mehr Verkehr. Etliche Trucks begegneten ihr und deckten
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